
© Chr. Freytag
ORTSTERMIN: Abstimmung mit Messer und Gabel
Von Massentierhaltung bis Gammelfleischskandal – wer heutzutage Fleisch isst, hat oftmals ein geplagtes Gewissen. Dennoch isst die Mehrzahl der Deutschen nach wie vor liebend gerne Steaks und möchte sich nicht durch moralische Appelle gegen den Fleischkonsum die Wurst vom Brot nehmen lassen.
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Von Massentierhaltung bis Gammelfleischskandal – wer heutzutage Fleisch isst, hat oftmals ein geplagtes Gewissen. Dennoch isst die Mehrzahl der Deutschen nach wie vor liebend gerne Steaks und möchte sich nicht durch moralische Appelle gegen den Fleischkonsum die Wurst vom Brot nehmen lassen. Um das Bewusstsein der Wurstliebhaber Potsdams auf die Schattenseiten der Fleischproduktion aufmerksam zu machen, stattete am Dienstagnachmittag das sogenannte Grunzmobil der Albert Schweitzer Stiftung (ASS) der Landeshauptstadt einen Besuch ab. Die Botschaft an die Potsdamer ist für den Leiter der Öffentlichkeitsarbeit der ASS Carsten Halmanseder, klar: „Massentierhaltung kann jeder auf seinem eigenen Teller beenden.“
In einem Kuhkostüm steht der 49-jährige Tierschutzaktivist gemeinsam mit vier weiteren ehrenamtlichen Helferinnen am Grunzmobil vor dem Brandenburger Tor und fordert die Passanten auf, ihren Fleischkonsum zu überdenken. Das Gefährt macht, dank eines überdimensional großen Schweins auf dem Transporterdach, seinem Namen alle Ehre. „Massentierhaltung jetzt stoppen. Stimmen sie mit Messer und Gabel ab“, rufen die Aktivisten den Potsdamern zu. Mit Videos und Flugblättern weisen die Tierschützer auf die Misstände in der deutschen Fleischproduktion hin.
Die Reaktionen der Potsdamer sind sehr gemischt. Gerd Brettschneider zum Beispiel schaut interessiert auf den großen Bildschirm, auf dem gerade die düster gefilmten Bilder einer Putenfarm flimmern. „So etwas unterstütze ich natürlich nicht“, meint der 76-Jährige: „Das ist absolut nicht in Ordnung.“ Auf die Frage einer Aktivistin, ob er sich eine Woche fleischlos ernähren wolle, entgegnet der Potsdamer: „Das kommt für mich nicht in Frage. Fleisch gehört schließlich zur Ernährung dazu.“
Eine These, die am heutigen Tag öfter zu hören ist. Bewusste Ernährung und Biofleisch – ja. Fleischverzicht – nein. Dass Massentierhaltung nicht unterstützenswert und abzulehnen ist, da sind sich die Potsdamer einig. Biofleisch von glücklichen Tieren, daran hat kaum jemand etwas auszusetzen. „Doch das ist eine Frage des Standpunktes von so einem Mobil“, gibt Helmut Freund, zu bedenken. Stünden die Aktivisten hier am Stern, dann würden sie von den Passanten ausgelacht, denkt der 65-Jährige. Ernährung sei auch immer eine Sache des Gelbeutels. „Das mittelständische Bürgertum in der Innenstadt kann sich das leisten,“ sagt er – oder frei nach Hauptmanns „Woyzeck“: Moralisch isst man, wenn man moralisch isst.
Dass die Wurst vom Biobauern keine Option für jedermann darstellt, erkennt auch ASS–Sprecher Halmanseder: „Letzten Endes ist aber auch Biofleisch keine Alternative.“ Es sei illusorisch, zu glauben, man könne alle sieben Milliarden Erdenbewohner mit Biofleisch versorgen. „Am Ende würde man wieder bei der Massentierhaltung landen“, erklärt der Tierschutzaktivist. Er selbst habe 38 Jahre lang liebend gerne Fleisch gegessen und dann jedoch für sich entschieden, sich der Tierquälerei und der Massentierhaltung entgegenzustellen, erzählt er. Seit zehn Jahren lebt Carsten Halmanseder vegan und ist immer wieder „von den vielfältigen Fleischalternativen überrascht“.
Auch wenn sich immer wieder interessierte Passanten am Grunzmobil einfinden und sich über die Zustände der Massentierhaltung informieren, bleibt der große Andrang an Dienstagmittag aus. „Manche der Besucher leben bereits schon vegan oder vegetarisch,“ berichtet Halmanseder. Doch der Großteil der Passanten bestünde auch in Potsdam aus Fleischessern.
Vielleicht liegt es am sonnigen Wetter oder an der Tatsache, dass viele Gäste der Innenstadt den Besuch beim Schnellimbis einer Dokumentation über misshandelte Schweine vorziehen, doch werden Carsten Halmaseder und seine Helferinnen nicht müde, den Passanten eine Woche selbstverpflichtenden Fleischverzicht schmackhaft zu machen.
Sie wären damit nicht allein: Laut einer bundesweiten Studie von „Produkt+Markt“ ernährten sich 2013 neun Prozent der Deutschen vegetarisch oder vegan. Die Nachfrage nach Fleischersatzprodukten steige stetig, sagt Halmanseder: „Es gibt so viele Alternativen.“ Wie diese jedoch genutzt werden, entscheide sich einzig und allein auf den Tellern eines jeden Einzelnen. Um gegen die Massentierhaltung in Brandenburg vorzugehen, startete die ASS kürzlich ein Volksbegehren. Bis Januar 2016 sollen 80 000 Stimmen gegen Tierquälerei gesammelt werden. Das Grunzmobil verließ Potsdam am Dienstagabend und rollt nun zur nächsten Fußgängerzone – ins niedersächsische Göttingen.
Torben Lehning, Julian Hampe
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