PYAnissimo: Annäherung am Wok
Der Chinaimbiss bei mir auf dem Heimweg ist mit Sicherheit der kleinste Imbiss der Stadt. Auf höchstens sechs oder sieben Quadratmetern sind Küche, Tresen und eine Abstellkammer untergebracht.
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Der Chinaimbiss bei mir auf dem Heimweg ist mit Sicherheit der kleinste Imbiss der Stadt. Auf höchstens sechs oder sieben Quadratmetern sind Küche, Tresen und eine Abstellkammer untergebracht. Hinter einer schmalen Tür vermute ich die Toilette. Die meisten Menschen haben Badezimmer größer als diese Küche. Deckenhoch stapeln sich Pakete mit exotischen Aufschriften und Bündel von Getränkedosen. Alle paar Minuten rattert eine S-Bahn darüber hinweg, die Straße davor ist ohnehin gut befahren. Und der Laden funktioniert, wer abends von der Arbeit oder aus dem Kino kommt, vom Fußballspiel im Karli, der kriegt hier schnell, was man von einem bodenständigen Asiaimbiss gemeinhin erwartet. Mann und Frau – es sind immer dieselben – arbeiten sieben Tage die Woche in dieser winzigen Küche, Hand in Hand, fast blind gelingen alle Abläufe, nur manchmal verständigen sie sich in ihrer Muttersprache.
Aber noch nie in all den Jahren habe ich mit ihnen mehr Worte gewechselt, als für Bestellung und Bezahlen nötig waren. Ich schaue immer nur. Einmal stand eine Zeit lang ein kleiner Altar neben der Tür, davor eine Schale Reis und abgebrannte Räucherstäbchen. Dieses Mal bemerke ich, dass die Frau einen neuen Haarschnitt hat. Er steht ihr, macht sie jünger. Und während ich auf Suppen und Frühlingsrollen warte, sehe ich eine aufgeschlagene dünne Zeitung auf dem Tresen liegen. Lesen kann ich das nicht – aber es sind lateinische Buchstaben. Herrjeh – ist mein Chinamann gar kein Chinamann? Ich hatte das nie infrage gestellt. Und hatte sie auch nie gefragt. Warum auch? Sind sie nicht einfach Geschäftsleute wie andere auch? Ich frage ja auch nicht jeden Bäcker oder jeden Polizisten, wo er herkommt und seit wann er in Potsdam ist. Aber Fremdes, Gesichter mit ungewohnter Physiognomie oder Farbe, das fällt halt auf. Da guckt man reflexartig hin. Ich zumindest. Doch wo endet Schauen, wo beginnt Starren? Oder andersherum: Was ist Gleichgültigkeit oder gar Desinteresse, und was ist normale Anteilnahme? Positive Neugier? Wann darf man seinen Imbissmann anquatschen? Man will ja niemandem zu nahe treten, nur weil er die Sauer-Scharf-Suppe ganz anständig hinbekommt. Aber gehört es sich nicht einfach, mal den Mund aufzumachen?
Der „Chinamann“ lächelt breit, als ich ihn nach seiner Herkunft frage, während er mein Päckchen herüberreicht. Ich weiß, dass auch er mich kennt, manchmal sehen wir uns in der Straßenbahn, aber wir grüßen uns nie. Wir steigen an derselben Haltestelle ein und an derselben aus. „Aus Vietnam“, sagt er. Hinter ihm zischelt es im gusseisernen Wok. „Sind schon lange hier, seit DDR-Zeit.“ Ich hätte gern noch gewusst, ob der schicke Jugendliche auf dem Foto in der aufgeschlagenen Zeitung sein Sohn ist. Und bin dann doch einfach gegangen. Dieses Mal.
Unsere Autorin ist freie Mitarbeiterin der PNN. Sie lebt in Babelsberg
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