Landeshauptstadt: Aus Karrieregründen in den Westen
In der Villa Schöningen wurde über Motive von DDR-Bürgern für ihre Ausreise diskutiert
Stand:
Lange Wartezeiten, Ausgrenzung und Inhaftierungen. Bürger, die einen Antrag zur Ausreise aus der DDR stellten, mussten mit vielen Schikanen rechnen.
In ihrem Buch „Ausreise per Antrag: Der lange Weg nach drüben. Eine Studie über Herrschaft und Alltag in der DDR-Provinz“ schildert Renate Hürtgen am Beispiel des Kreises Halberstadt in Sachsen-Anhalt die Schicksale der Antragssteller, erzählt von ihren Motiven und Hintergründen. Am Donnerstagabend stellte sie das Buch im Rahmen der Veranstaltungsreihe zum 25. Jahrestag des Mauerfalls in der Villa Schöningen an der Glienicker Brücke vor.
Renate Hürtgen wurde 1947 in BerlinFriedrichsfelde geboren und ist promovierte Kulturwissenschaftlerin. Sie betätigte sich aktiv in der DDR-Opposition und war von 1997 bis 2012 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) in Potsdam.
Für die Recherche zu ihrem aktuellen Buch hat sie die Geschichten zu etwa 800 Anträgen zusammengetragen. Der mikrohistorische Ansatz der Regionalstudie wurde ganz bewusst von ihr gewählt. „Es gibt in der Forschung einfach noch nichts zu den Antragstellern in der Provinz“, sagte sie. „Und mir war es wichtig, dass der Durchschnittsantragsteller im Mittelpunkt steht.“ So hätte es in Halberstadt kaum Akademiker oder Künstler gegeben, sondern eher Arbeiter, Angestellte und viele Familien. Überraschend war für sie, dass es kaum Oppositionelle gab und die Gründe für den Ausreiseantrag so oft eher privater als politischer Natur waren. „Tatsächlich gab es viele Menschen, die sich einfach in der Mitte des Lebens noch mal verändern wollten“, erklärte Hürtgen. „Sie fühlten sich nicht ausgelastet in ihrem Job, kamen karrieretechnisch nicht weiter und wollten deswegen raus aus der Stagnation.“ Als zu diesem Punkt Widerspruch aus dem Publikum kam, räumte sie ein, dass dies regional bedingt war. Ihr sei sehr wohl bewusst, dass viele Menschen die DDR verlassen wollten, weil sie durch ihre politische Einstellung stark in ihrer Lebensweise eingeschränkt waren. „Solche gab es auch in Halberstadt“, setzte sie hinzu. „Aber das war hier die Minderheit.“
So oder so hatten es die Antragsteller nicht leicht. Die Wartezeit, bis über den Antrag entschieden wurde, betrug in Halberstadt durchschnittlich 2,2 Jahre und in der Zeit lebten die meisten Menschen sehr zurückgezogen. Ein großes weißes A, wie es etwa in Dresden von Antragstellern stolz in die Fenster gehängt wurde, gab es hier nicht. „Die Leute mussten mit verstärkter Überwachung rechnen und wurden auch von ihren Mitbürgern verurteilt“, so Hürtgen. „Fast alle erlebten Disziplinierungen und nicht wenige wurden inhaftiert.“ Der Verdacht, dass viele Antragsteller nur verhaftet wurden, um dem Staat Geld durch einen Freikauf einzubringen, lag sehr nahe, wie die Autorin sagte. „Die Ausreiseantragsteller waren ein großes Problem für die Stasi, mit dem sie auch ein Stück weit überfordert war“, so Hürtgen. „Somit kam es willkürlichen Entscheidungen.“
Nur ein Drittel der Antragsteller durfte wirklich ausreisen – und das oft nur mit wenig Habseligkeiten, wie die Potsdamerin Grit Böhnke in der sich anschließenden Podiumsdiskussion erzählte.
Böhnke, 1964 in Mecklenburg geboren, reiste selbst kurz vor der Wende über Ungarn aus der DDR aus. Bei ihr lagen die Gründe irgendwo zwischen privaten und politischen Motiven: Ihre Eltern waren keine Parteimitglieder, lebten aber sonst eher unauffällig. Trotzdem wurden sie mehrmals von der Stasi überprüft, jedes Mal ohne Ergebnis. Böhnke selbst wurde mehrmals von der Universität exmatrikuliert und durfte in Potsdam keine eigene Wohnung beziehen. „Mein einziger Fehler war, dass ich ein paar Mal zu oft laut meine Meinung gesagt habe“, sagte sie. „Ansonsten habe ich mich nicht oppositionell engagiert oder so etwas.“ Obwohl sie ihre Heimat eigentlich nicht verlassen wollte, stellte Böhnke einen Antrag für ein Visum nach Ungarn, das im Oktober 1989 bewilligt wurde. Als offizielle Auslandsreisende, reiste sie ohne Papiere und nur mit einem Koffer am 7. Oktober über Budapest in den Westen aus und ging zu Bekannten an die Schweizer Grenze. Als sie am 9. November vom Mauerfall erfuhr, fuhr sie sofort zurück nach Potsdam, um ihre Eltern zu sehen. Es folgte ein Hin- und Herpendeln, bis sie im Juli 1990 endgültig zurück nach Potsdam ging. Heute lebt und arbeitet Böhnke hier als Erziehungswissenschaftlerin. Bereut hat sie die Ausreise nie, auch wenn sie die Erfahrung innerlich verändert hat. „Ich habe erfahrungstechnisch so ein Ost-West-Gemisch in mir, was manchmal schwer erklärbar ist“, sagte sie. „Aber trotzdem möchte ich es nicht missen.“ Sarah Kugler
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: