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Die Nacht von Potsdam: Codename "Crayfish"

724 Maschinen griffen in der Nacht des 14. April 1945 Potsdam an. Der Befehl zum Bombenabwurf kam um 22.39 Uhr. 20 Minuten später stand die historische Stadtmitte in Flammen. In England löste das eine Debatte aus. Churchill fragte seine Militärs: Warum? Eine Spurensuche.

Es war ein sonniger Tag in Potsdam an diesem 14. April 1945, auch zahlreiche Zeitzeugen sprechen von einem warmen Frühlingstag. Und der Potsdamer Historiker Hans-Werner Mihan, der in seinem 1997 erschienenen Buch „Die Nacht von Potsdam“ den verheerenden Luftangriff umfassend dokumentierte, schrieb, der Wetterbericht habe damals von einer ungewöhnlich guten Fernsicht berichtet. Es war Sonnabend, und die Potsdamer waren in Vorfreude auf den arbeitsfreien Sonntag. Der Zweite Weltkrieg sollte in Europa schon in weniger als einem Monat offiziell beendet sein. Im Westen rückten die Truppen der Alliierten auf die Elbe zu, an der Oderfront bereitete sich die Rote Armee auf den finalen Sturm auf Berlin vor.

Potsdam war vom Krieg bislang weitgehend verschont geblieben. Nur einzelne Bomben trafen die Stadt, wenn Flugzeuge der Alliierten bei ihren Luftangriffen auf die Reichshauptstadt Berlin Notabwürfe über Potsdam durchführen mussten. Mihan verzeichnete den ersten Bombenabwurf auf Potsdam am 21./22. Juni 1940, insgesamt waren es 50 Abwürfe. Nur einmal gab es demnach bis zu diesem Tag im April 1945 einen größeren Angriff auf Potsdam: Am 21. Juni 1944 warfen, so berichtete es Mihan, 40 B-24-Bomber der US Air Force bei einem Tagesangriff auf Berlin einen Bombenteppich über Potsdam ab – von Herrmannswerder bis Babelsberg. Fünf Menschen soll dies das Leben gekostet haben, berichtet Mihan.

Plan: Deutsche Städte sollten ausgelöscht werden - von der Luft aus

Zu dieser Zeit wurden Pläne für eine größer angelegte Bombardierung Potsdams entwickelt. Mihan zufolge entwickelte Sidney Bufton, Direktor der britischen Bomber-Operation, im Sommer 1944 den sogenannten Thunderclap-Plan, also den finalen Donnerschlag für das Dritte Reich. Der Plan sah vor, deutsche Städte, vor allem aber die Reichshauptstadt Berlin, gewissermaßen auszulöschen – mit massiven Großangriffen aus der Luft, mit mehreren Tausend Maschinen, die unablässig Tag und Nacht ihre Bomben abwerfen.

Der britische Luftmarschall Arthur Harris hatte schon am 3. November 1943 seinem Premier Winston Churchill deutlich gemacht: „Wir können Berlin von einem Ende bis zum anderen einäschern, wenn sich die USAAF (US Air Force, d. Red.) anschließt. Es wird uns 400 bis 500 Flugzeuge kosten. Es wird Deutschland den Krieg kosten.“ Die Idee aber, dass die Moral der Deutschen mit diesem Bombardement derart geschwächt wird, dass sie sich erheben gegen die Nazis, bewahrheitete sich nicht, wie sich zeigen sollte.

Potsdam tauchte auf der Liste auf

Der Thunderclap-Plan landete zunächst in der Schublade, 1945 kam er doch noch zum Einsatz. Listen waren längst vorhanden; Berlin und Dresden traf es mit voller Wucht im Februar. In der Prioritätenliste vom 9. Februar 1945 tauchte, so fand Mihan heraus, auch Potsdam auf, an achter Stelle mit dem Codenamen „Crayfish“, Flusskrebs.

Der Historiker Mihan hat die minutiöse Planung und den Verlauf des Angriffs ausführlich beschrieben. Im Angriffsbefehl war demnach die Nikolaikirche der Bezugspunkt, das Bahnhofsgebiet 650 Meter südlich davon sollte zerstört werden: „To destroy railway facilities and barracks housing military and Nazi personnel.“

Bereits Tage zuvor, am 9. April, hatte ein britischer Aufklärer bei sonnigem Wetter über Potsdam Fotos gemacht, die offenbar – so mutmaßte Mihan – bei der Einsatzplanung am 12. April eingesehen wurden. Das Bahnhofsgelände ist auf einem der Fotos markiert. Ursprünglich sollte die britische Royal Air Force am 14. April schon nachmittags um 16.30 Uhr ihre Bomben auf Potsdam abwerfen, erst am Tag selbst wurde der Einsatz nach Mihans Recherchen in die Nachtstunden auf 22.50 Uhr verschoben. Hinzu kamen starke Winde, Kurse und Zeiten mussten neu berechnet werden. Noch gegen 17 Uhr schoss ein US-Aufklärer Fotos von Potsdam, es waren wohl die letzten Aufnahmen des intakten Potsdams.

724 Maschinen im Einsatz

Die Details zu dem Einsatz hat Mihan genau recherchiert und dargestellt. Von 25 Flugplätzen nördlich von London starteten zwischen 17.45 Uhr und 19 Uhr 500 Lancaster und zwölf Mosquitos. Für drei Ablenkungsangriffe auf Cuxhaven, Berlin und Wismar kamen weitere 24 Lancaster und 76 Mosquitos zum Einsatz. 112 weitere, verschiedene Maschinen wurden für die Radarstörung und Überwachung der deutschen Nachtjagd-Flugplätze eingesetzt. Es waren also 724 Maschinen im Einsatz. Für den Angriff auf Potsdam flogen die Maschinen auf der Route London-Abbeville-Cambrai-Mainz-Hildesheim. Zwischen Paderborn und Kassel griff Mihan zufolge der erste deutsche Nachtjäger an, bei Helmstedt ein weiterer. Die britischen Bomber flogen weiter.

Um 22.15 Uhr wurde in Potsdam Bombenalarm ausgelöst, als die britischen Maschinen den Raum Hannover/Braunschweig erreichten. Den endgültigen Befehl zum Abwurf der Markierungsbomben gab als sogenannter „Master Bomber“ und Leiter des Einsatzes Oberstleutnant Hugh Le Good in einer Lancaster um 22.39 Uhr.

Der Bahnhof in Flammen

Um 22.40 Uhr begann das verheerende Bombardement Potsdams. Beim Wetterdienst, so fand Mihan heraus, schlugen die Instrumente aus. Taghell leuchtete es durch die Markierungsbomben in der Stadt, 836 Beleuchtungsbomben warfen die Briten ab. Mihan berichtete nach der Auswertung der Einsatzberichte vieler Flugzeugbesatzungen von einer wolkenlosen Nacht mit guter Sicht, Details auf dem Boden konnten aus den Maschinen, die in 5500 und 6500 Metern Höhe über Potsdam flogen, leicht ausgemacht werden.

Besonders das Bahnhofsgelände stand schnell in Flammen, um 22.57 Uhr explodierte, wie Mihan herausfand, ein Munitionszug. Um 23.16 Uhr kehrten die letzten Bomber Richtung England um. Noch über dem Harz sahen die Besatzungen der Maschinen das brennende Potsdam, berichtete Mihan. Auch noch in der Nacht darauf berichteten Bomber-Verbände nach Angriffen auf Berlin von Bränden in Potsdam.

Schon kurz danach löste dieses letzte große Flächen-Bombardement der Alliierten im Zweiten Weltkrieg gegen eine deutsche Stadt, Potsdam, in Großbritannien eine politische Debatte aus: Am 19. April 1945 – also nur vier Tage nach dem Angriff auf Potsdam – fragte Winston Churchill, der „Vater des Sieges“ auf Seiten der Hitler-Gegner, in einem Brief an das „Bomber Command“ nach den näheren Gründen der Zerstörung der Stadt: „Was war der Grund, nach Potsdam zu gehen und es einzuäschern?“, formulierte Churchill unmissverständlich – und offenkundig mit kritischem Unterton. Dies war umso verwunderlicher, als der Premier über sämtliche Details des Bombenkrieges gegen Nazi-Deutschland fortlaufend und akribisch exakt unterrichtet war.

Die britische Öffentlichkeit war indes durch die Bombardierung Dresdens im Februar und das negative internationale Echo auf diese Aktion ohnehin sensibilisiert. Im Unterhaus hatte der oppositionelle Abgeordnete Richard Stokes am 6. März 1945, also gut drei Wochen nach der Dresden-Operation, den amtierenden Luftfahrtminister Sinclair heftig attackiert. Er stellte die provozierende Frage: „Ist in dieser Phase des Krieges das uneingeschränkte Bombardement gegen große Bevölkerungszentren, die voller Flüchtlinge sind, weise? Wir haben die schrecklichen grauenvollen Geschichten gelesen über das, was sich in Dresden zugetragen hat.“ Zugleich warnte er die eigene Regierung, aber auch die USA davor, am Ende dieser Bombardierungspolitik nur noch zerstörte und verwüstete Städte auf deutschem Boden vorzufinden. „Elend und Armut“, so Stokes, drohten dann jede Politik des Neuanfangs nach der deutschen Niederlage scheitern zu lassen.

Churchill reagierte abermals drei Wochen später auf diese Rede und schrieb an das „Bomber Command“ einen distanzierten Brief, der den Vorrang der Politik vor militärischen Aktionen à la Dresden unterstreichen sollte. Die Militärs reagierten äußerst verärgert auf Churchills Versuch, sich gleichsam von den seit Langem beschlossenen und bislang kritiklos vorgenommenen Flächenangriffen abzusetzen.

Debatte erst 60 Jahre später

In einem Schreiben vom 29. März lehnte Arthur Harris als Chef des „Bomber Command“ jede Einschränkung der flächendeckenden Angriffe auf deutsche Städte ab und fand die öffentliche Aufregung um die Angriffe auf Dresden „unbegreiflich“. Er wandelte sogar ein Zitat von Bismarck ab und schrieb: „Ich persönlich halte die gesamten verbliebenen Städte Deutschlands nicht der Knochen eines einzigen britischen Grenadiers wert.“

In Deutschland begann die Debatte über die moralische Dimension des Bombenkrieges und das militärisch-politische Für und Wider erst mit dem vielfach ausgezeichneten Standardwerk „Der Brand“ des renommierten NS-Forschers Jörg Friedrich im Jahre 2004, also fast 60 Jahre nach dem Untergang Potsdams. Das Werk avancierte schnell zum Bestseller.

Friedrichs Kernthese über die Gründe der Bombardierung der Preußen-Wiege lautet: „Potsdam wurde zerstört, um den preußischen Militarismus geschichtlich zu annullieren.“ Der Angriff sei weniger militärisch als geistesgeschichtlich motiviert gewesen: Es sei um den Ungeist gegangen, der mit dem Namen Potsdams verbunden gewesen sei. „Jedes Gefäß soll brechen, das dem Ungeist zu künftigem Aufenthalt taugt. Potsdams Ruin am 14. April ist ein Fall solcher Annäherung. Das mythische Gestein von Potsdam und Nürnberg (Reichsparteitagsgelände, d. Red) wurde triumphal gekippt.“

Große Schäden entstanden durch Rote Armee

Dagegen verteidigte Mihan, der Potsdamer Historiker und ausgewiesener Kenner aller Umstände des Angriffs, Zeit seines Lebens beharrlich die für ihn sichere Erkenntnis, tatsächlich sei der Bahnhof als Knotenpunkt einer noch halbwegs intakten West-Ost-Verschiebung deutscher Truppentransporte das ausschließliche Ziel gewesen.

Tatsächlich fand Mihan dank neuer Methoden bei der Luftbildauswertung heraus, dass durch den Luftangriff die Nikolaikirche, das Alte Rathaus sowie das Stadtschloss und das Knobelsdorffhaus am Alten Markt nur wenig beschädigt wurden. Die großen Schäden entstanden hier erst durch Artilleriebeschuss der Roten Armee.

Dieser Artikel erschien bereits in einer Sonderausgabe zur Nacht von Potsdam am 11. April 2015

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