Von Sabine Schicketanz: „Das gäbe es in Stuttgart nie“
Die Schwaben Meike Böhmer und Hauke Reiser kamen vor 13 Jahren zum Studieren nach Potsdam. Heute leben sie mit Tochter Ida im „Familienparadies Potsdam-West“
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Braucht ein Osterhase Beine? Ida ist sich da ganz sicher. „Mama, er muss Beine haben!“ Ida wird in ein paar Wochen vier Jahre alt. Sie ist ein geschicktes Mädchen, schon zwei Osterhasen hat sie aus dem Hefeteig geformt, den ihre Mutter Meike Böhme in der großen Metallschüssel angesetzt hat. Idas Hasen haben ellenlange Ohren und ebenso lange Beine. Dass ihre Mutter einen Osterhasen nur mit Bauch und Ohren geknetet hat, gefällt ihr gar nicht. Der Wille der Dreijährigen ist stark: Der Hase der Mama bekommt – ein Erziehungskompromiss – einen Puschelschwanz.
Alltag ist diese freitagnachmittägliche Backstunde allerdings nicht. Aber die Kita hat heute zu. Normalerweise geht Ida in den Kindergarten am Heiligen See und ihre Eltern Meike Böhmer und Hauke Reiser gehen arbeiten. Die 34-Jährige und ihr 36-jähriger Lebenspartner sind beide selbstständig. Sie betreibt den Laden „Designmeisterei“ in der Gutenbergstraße und arbeitet als freie Designerin, seine Firma heißt „Schichtwerk“ und ist in einer etwa 200 Quadratmeter großen Werkstatt im „Potsdam Centrum für Technologie“ (pct) im Bornstedter Feld angesiedelt. Die Familie wohnt in der Brandenburger Vorstadt, in einer lang gestreckten Wohnung im Hochparterre eines denkmalgeschützten Jugendstilhauses.
„Familienparadies Potsdam-West“ nennen Böhme und Reiser ihren Stadtteil. Es gebe hier ein „ganz starkes Kiez-Gefühl“, ein Prenzlauer-Berg-Feeling, nur ohne den Berliner Großstadt-Stress, sagt Meike Böhmer. Und leider ohne die vielen Cafés. Doch fast alle Nachbarn hätten Kinder, es gebe viele gute Hausgemeinschaften. „Man hat das Gefühl, dass alle sich gegenseitig helfen.“ Bei Umzügen, mit den passenden homöopatischen Globuli-Kügelchen zum Einnehmen und natürlich bei der Kinderbetreuung. Vor allem in der „inneren“ Brandenburger Vorstadt, dem zwischen 1900 und 1912 erbauten, an den Park Sanssouci geschmiegten Jugendstil-Viertel zwischen Hans-Sachs- und Sellostraße, hätten viele Zugezogene ihr neues Zuhause gefunden. „Da sind die Großeltern weit weg, dadurch weht ein anderer Wind im Zusammenleben“, sagt Hauke Reiser. Er selbst stammt aus Stuttgart, Meike Böhme aus dem schwäbischen Bietigheim-Bissingen. Nach Potsdam kamen beide 1997, an der Fachhochschule (FH) studierten sie Produktdesign. Am ersten Tag des Studiums haben sie sich kennen gelernt, bald wurde Liebe daraus.
Dass sie heute, 13 Jahre später, noch immer in Potsdam wohnen würden, hätte Hauke Reiser, ein schlanker Mann in dunklen Jeans und Pullover, früher nie gedacht. Während des Studiums hatten sie ein Jahr in Berlin gelebt, später ein Jahr im Ausland. Und nach dem Abschluss „haben wir wirklich lange überlegt, wieder nach Süddeutschland zu gehen.“ In Potsdam sei Industrie, die Aufträge an Produktdesigner vergibt, rar. Vieles sprach für Süddeutschland, vieles – für Potsdam sprach am Ende mehr. Das, was oft als „weiche“ Standortfaktoren umschrieben wird und ein harter Pluspunkt ist.
„Hier kann man selbst mitbestimmen“, sagt Hauke Reiser. Die Wege zu Entscheidern in der Stadt- und Landespolitik seien im überschaubaren Potsdam kürzer, man sei näher dran. „Das gäbe es in Stuttgart nie im Leben.“ Potsdam befinde sich seit zehn Jahren im Aufbruch, eine „außergewöhnliche Situation, die zunehmend verschwinden wird.“
Aber noch sei es eben da, sagt Meike Böhme, dieses „Gefühl, dass man hier etwas bewegen kann“. Sie harkt im Hof das Laub zusammen, Ida spielt im Buddelkasten der Hausgemeinschaft oder schaukelt. Da die Kita geschlossen ist, hat sie ihre Freundin Lisa zu Besuch, deren Mutter als Ärztin nach Dienstplan arbeiten muss. „Sie hat heute bei mir übernachtet“, ruft Ida dem jungen Mann aus dem Haus gegenüber zu, der die Mädchen gerade begrüßt hatte. Im Hof stehen Stühle und Bänke, eine Fähnchengirlande schaukelt im Wind, Kinderspielzeug säumt den Sandkasten. Meike Böhmer mag das. Sie fühlt sich, auch das wird schnell klar, in Potsdam freier als in Schwaben. „Hier muss nicht alles perfekt sein, es geht nicht darum, einen äußeren Schein zu wahren.“ Ihr Bruder wohne mit seiner Familie in Stuttgart, „das ist auch eine schöne Stadt, aber der Umgang ist ganz anders“. In Potsdam, sinniert sie, lebe es sich offener, unkomplizierter, „jeder nach dem eigenen Gusto“. In Potsdam werde „aus wenig viel gezaubert“, für kleine Hilfen „nicht immer eine Gegenleistung erwartet“. Mit Kind finde man schnell Anschluss, wenn es auch Potsdamer Kreise gebe, die durch eine gemeinsame Vergangenheit eng zusammengeschweißt seien. Den manchmal mürrischen Tonfall allerdings, „das Brandenburgische, das muss man erstmal verkraften“, sagt Meike Böhme. Sie wirkt zupackend und sensibel zugleich, trägt ihr Haar kurz, ist ungeschminkt. Ihren Kleidern sieht man genauso wie den Möbeln in der Wohnung die Designerin an – alles wirkt ausgesucht, aber nicht überzogen.
Bis Meike Böhme an diesem Tag arbeiten gehen kann, dauert es noch ein paar Stunden. Nach dem Frühstück der Familie, das die Ausnahme ist, weil Ida sonst bis spätestens halb neun zum gemeinsamen Essen in der Kita sein muss, ist erst einmal ihr Lebenspartner Hauke Reiser ins Büro gefahren. Sein Job verlangt ihn heute dringender. „Wir versuchen eine 50-50-Lösung“, sagt er und meint die Betreuung von Ida, eine Herausforderung, stets aufs Neue, Tag für Tag, Woche für Woche. „Wir sprechen uns ab, und wer mehr zu tun hat, der darf lange arbeiten“, erklärt seine Lebenspartnerin. Der jeweils andere holt dann Ida aus der Kita ab, spätestens um halb sechs. „Das ist schon lang“, sagt Meike Böhmer. Es klingt ein wenig entschuldigend. Hauke Reiser dagegen scheint mit diesem Alltagsmodell zufrieden: „Es ist der Luxus, den Potsdam bietet.“
Wie viele Familien das genauso sehen, haben die beiden Designer gerade eindringlich erfahren. Im April wollen sie umziehen, ein paar Häuser weiter, zweiter Stock, kleinere Wohnung. „Das Arbeitszimmer fällt weg“, erklärt Meike Böhme. Ein Anstoß, damit mehr Zeit fürs Familienleben bleibt. Für ihre jetzige Wohnung haben sie Nachmieter gesucht – es meldeten sich Bewerber zuhauf „30, 40 waren es, wir haben gar nicht mehr gezählt“. Die beiden hat es nicht überrascht. Die Brandenburger Vorstadt sei eben besonders attraktiv, „hier wollen alle bleiben, selbst die, die täglich nach Berlin pendeln“. Auch frühere Kommilitonen, die einst nur weg wollten aus Potsdam, kämen mit ihren Familien zurück.
Überhaupt, Familie. „Schwangerschaft ist ja ansteckend in Potsdam“, sagt Hauke Reiser. „Familienbezogen“ nennt Meike Böhme die Stadt. Als Designerin hat sie erst vor kurzem eine mobile Kinderbibliothek und raffinierte Sitz- und Spielmöbel entworfen, mit denen sich die Fachhochschule im bundesweiten Wettbewerb „Orte der Familie“ profilierte. Und wie schneidet Potsdam, die laut Statistik „familienfreundlichste Stadt Deutschlands“, als Ort der Familie ab? „Es stimmt schon: Familien können hier toll leben“, sagt Hauke Reiser. Und trotzdem dürfte sich die Stadt nicht auf ihren Lorbeeren ausruhen, „das Gefühl hat man manchmal“. Einen Kita-Platz zu bekommen, sei bekanntlich „fast aussichtslos“, die Bewerbung für die Grundschule der Wahl sorge bei ihm jetzt schon für Grauen. Es sei Zeit, dass die Stadt sich nicht nur auf diejenigen konzentriere, die kommen, sondern auf die, „die hier sind“.
Die Osterhasen sind inzwischen fertig gebacken. Ida hat interessiert in den Backofen geschaut, wo der Hefeteig immer dicker wurde. Die Beine ihrer Hasen allerdings, die sind in der Hitze abgefallen.
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