Potsdam: Das heikle Datum
Die DDR-Regierung schwieg den 17. Juni tot, doch Flugblätter aus dem Westen erinnerten weiter daran
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Es ist eine Art verkehrter Adventskalender: Je näher der 17. Juni rückt, umso größer wird der Stress bei dem SED-Funktionär, der das Kalenderblatt abreißt. Erst liegt nur die Stirn in Sorgenfalten, bald leuchtet schon das ganze Gesicht tiefrot, perlt der Angstschweiß vom Kopfe. Am 15. Juni macht sich der Mann aus dem Staub – und fährt am 17. mit einem Sowjetpanzer vor, um das Blatt mit dem heiklen Datum vom Kalender zu reißen. Auf dem letzten Bild schaut er aus der Panzerluke, wischt sich erleichtert die Stirn ab – „Geschafft!“ steht darunter zu lesen.
Der Comic stammt aus dem Jahr 1955, zwei Jahre nach dem Arbeiteraufstand, den das DDR-Regime nicht nur niedergeknüppelt, sondern auch danach totgeschwiegen hat. Die Erinnerung daran wurde nicht zuletzt durch Flugblätter aus dem Westen Deutschlands aufrechterhalten. Der Comic etwa fand mit der „Tarantel“ den Weg in die DDR – einem monatlich erscheinenden kostenlosen politischen Satireblatt, das in Berlin-Charlottenburg gedruckt und über die Grenze geschafft wurde. „Preis unbezahlbar“ steht auf dem Titel. „Die Tarantel wurde in Interzonenzügen ausgelegt und an den Grenzübergängen“, erzählt Horst Goltz. Der 83-jährige Potsdamer besitzt 80 der insgesamt mehr als 100 Tarantel-Ausgaben. Viele hat er damals selbst gefunden.
Denn Flugblätter sind das Hobby des studierten Biologen. Begonnen hat er schon im Schulalter – mittlerweile ist Goltz einer von weltweit rund 600 Mitgliedern der internationalen Vereinigung der Flugblattsammler „Psy war society“. 1943, als 13-jähriger Schüler, fischte er sein erstes Flugblatt aus einem Busch an der Templiner Straße und streifte später regelmäßig durch den Potsdamer Forst, um die von den Alliierten abgeworfenen Nachrichten-Blätter zu sammeln und zu verstecken. Niemand durfte davon wissen – Goltz riskierte mit der Sammlung von sogenannter „Feindpropaganda“ sein Leben, wie ihm erst später richtig klar wurde. Selbst enge Freunde und die Familie weihte er erst nach Kriegsende ein.
Als wenige Jahre später der Kalte Krieg begann, schwebten erneut Flugblätter an Ballons bis über Potsdam und konnten zum Beispiel auf dem Balkon plötzlich vom Himmel regnen. „Ich habe mich zunächst nicht darum gekümmert“, erzählt Goltz. Denn anders als im Weltkrieg habe er über Medien wie den Radiosender RIAS oder den Sender Freies Berlin (SFB) Zugang zu Information gehabt – „da waren Flugblätter erstmal nicht so interessant“. Bald aber packte ihn erneut der Sammlerehrgeiz. Mehr als 500 Flugblätter aus der Zeit des Kalten Krieges besitzt Goltz heute.
„Als Botaniker war ich viel im Gelände“, erzählt er: „Zuerst habe ich immer Zäune und Waldränder abgesucht.“ Denn dort hatten sich die vom Wind verwehten Blättchen oft verfangen. Ungefährlich war das Mitnehmen auch zu DDR-Zeiten nicht. Zumindest seine Arbeit hätte er wohl verloren, wenn dieses besondere Sammelinteresse bekannt geworden wäre.
„Gefährdet Euch nicht durch den Besitz dieses Flugblatts!“, haben einige Flugblattmacher vorsorglich auf ihre Blätter drucken lassen, um arglose Finder zu warnen. Goltz’ Brief-Korrespondenz mit Flugblattsammlern im Ausland – sie betrifft nur die Zeit des Zweiten Weltkriegs – fand er nach der Wende in seiner Stasi-Akte wieder. Dass der Geheimdienst mitliest, sei ihm bewusst gewesen: „Ich habe jede politische Äußerung vermieden.“
Hinter den Flugblättern des Kalten Krieges, die von Bieretiketten-Größe bis zum Zeitungsformat reichen und Namen wie „Der Kämpfer“ oder „Die Wahrheit“ tragen und mit sinnreichen Sprüchen gegen die SED Stimmung machen, steckten verschiedene Organisationen – und in den meisten Fällen auch Geld vom amerikanischen Geheimdienst, sagt Goltz.
Die „Tarantel“ etwa wurde vom Ostberliner Journalisten Heinz W. Wenzel nach seiner Flucht in den Westen gegründet. Bekanntheit erlangte auch die „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“, deren Flugblätter mit einem von einem Stacheldraht-„U“ umfassten „K“ markiert waren. „Der Geist des 17. Juni lebt!“ steht auf einem der Blätter, die Goltz gefunden hat. Auch die großen westdeutschen Parteien, die dafür sogenannte „Ostbüros“ gegründet hatten, sorgten für Blätterregen. Auch die Bundeswehr brachte eine Fälschung der DDR-Zeitung „Volksarmee“ in Umlauf, in der unter anderem über in den Westen geflohene Soldaten berichtet wird. Horst Goltz hat das Exemplar in seiner Sammlung. Jana Haase
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