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Landeshauptstadt: „Das ist die Erfüllung meines Lebens“

Vor 50 Jahren wurde Lutz Hannemann Fotograf – mit seinen Luftbildern hat er Stadtentwicklung aufgezeichnet

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Der Propeller dröhnt. Kalter Wind pustet in 300 Metern Höhe durch das offene Fenster der Cessna 172. Die Naturgewalt zerrt an der dicken Baumwolljacke, die sich Lutz Hannemann übergezogen hat. Die Ohrenklappen seiner ledernen Fliegerkappe auf dem Kopf wedeln wild hin und her. Die Kamera ist im Anschlag. Klick, Klick, Klick. „Jetzt einen engen Kreis ziehen“, brüllt Hannemann dem Piloten neben sich zu. Der nickt kurz und drückt den Steuerknüppel nach rechts. Schwungvoll drehen sich die Tragflächen des kleinen viersitzigen Flugzeuges in Richtung Senkrechte. Klick, Klick, Klick. „Das ist ein Ausblick, den gibt es selten“, ruft Hannemann und setzt die Kamera über der sonnenüberfluteten Spielzeuglandschaft der Potsdamer Innenstadt wieder an, bis alles im Kasten ist.

Über den Wolken lebt Lutz Hannemann auf. Der 66-jährige Potsdamer ist seit 50 Jahren Fotograf. Mit seinen Luftaufnahmen zeichnet er die Entwicklung der Stadt seit mittlerweile zwei Jahrzehnten aus der Luft auf. Vom Bau des Hauptbahnhofs, den neuen Sportanlagen am Luftschiffhafen bis zum Landtagsschloss und vielem mehr. Hannemanns Aufnahmen sind in Büchern, in den PNN und auf Ausstellungen zu sehen. Auch nach einem Schlaganfall denkt der Rentner mit dem akkurat geschnittenen Kinnbart und der gold-umrahmten Brille nicht ans Aufhören. „Solange es geht, will ich weiter fotografieren“, sagt Hannemann. „Das ist meine Liebe zur Fotografie.“ Nach seinem Schlaganfall dauerte es einen Monat, bis er wieder in die Luft ging. „Das ist die Erfüllung meines Lebens.“

Mit drei schweren Kameras – einer Digitalen und zwei alten Pentax-Modellen mit extra breitem Rollfilm – startet Hannemann vom Saarmunder Flugplatz seine Touren über die Region. Jede der Kameras bringt samt Objektiv knapp fünf Kilo auf die Waage. An den älteren Geräten ist ein dicker abgegriffener Holzgriff montiert. „Die Leute fragen immer, ob ich selbst fliege. Ich fliege nicht selbst, ich hab die Hände voll mit Kameratechnik.“

Aschaffenburg, Hamburg, Stralsund, Schwerin, New York, Russland, Potsdam – und immer wieder Potsdam. Hannemann hat viele Städte aus der Luft fotografiert. Banken, Stiftungen, Bauherren nehmen seine Dienste in Anspruch, um ihr Eigentum aus der Luft ablichten zu lassen. Nebenbei genießt Hannemann den Ausblick. Knapp 16 000 Aufnahmen von Potsdam hat er in seinem Archiv.

„Potsdam ist ein sehr lebendiges Gebilde. Man denkt, man hat alles einmal fotografiert, aber das ist bei weitem nicht so“, sagt Hannemann. Immer wieder lockten interessante Neubauten, wie der geschwungene Bau des Hasso-Plattner-Instituts und zahlreiche Hinterhöfe der Stadt, in denen gerade erst gebaut wird. „Wenn man sich in ein Luftbild reinschaut, kann man eine Menge Zeit verbringen.“ Immer wieder gibt es auf den Aufnahmen etwas zu entdecken, auch das eigene Haus oder die Arbeitsstätte. „Man hat von oben den schönsten Blick.“

Mit 14 Jahren machte der gebürtige Potsdamer im Schulfotozirkel seine ersten Versuche mit einer Praktika FX2. „Das war ein riesen Spaß“, sagt er. Fasziniert von der Fotografie, suchte er nach einer Lehrstelle als Fotograf und wurde bei Elsa Mielke in Potsdam fündig. Die Fotografin suchte einen männlichen Azubi. Hannemann, damals mehrfacher Bezirksmeister im Gewichtheben, bekam die Stelle. Als er an seinem ersten Arbeitstag die schweren Säcke mit den Fixiersalzen sah, die ins Labor geschleppt werden sollten, wusste er warum.

Nach der Lehre heuerte er am Geodätischen Institut auf dem Telegrafenberg als Haus- und Hoffotograf an und blieb 30 Jahre. Für Wissenschaftler und DDR-Kosmonauten war Hannemann fotografischer Berater. Er schloss Freundschaft mit Siegmund Jähn. Im modernen Fotolabor auf dem Gelände entwickelte Hannemann nach Erdbebenmessungen die Registrierstreifen. „Ich war einer der ersten, die wussten, dass es auf der Welt ein Erdbeben gegeben hat.“ In seiner Zeit am Institut legte er die Fotografenmeisterprüfung ab und bildete in seinem Berufsleben knapp 200 Fotografen aus.

Nach dem Fall der Mauer gab es neue Freiheiten. „Meine Frau Marlene hat mir gesagt, du kannst doch was!“ Hannemann machte sich selbstständig. 1991 bestieg er das erste Mal ein Flugzeug, um Luftaufnahmen zu machen. Der rbb-Verkehrsreporter Frank Hellberg steuerte die Maschine. „Die Luftaufnahmen sind eingeschlagen.“ Ein Foto vom Telegrafenberg ging um die Welt. „Das wollte ich weiter machen.“ Höhenangst kennt er nicht.

Durch die niedrige Flughöhe von nur 300 bis 400 Metern sind am Computer in der Hochauflösung zahlreiche Details auf den Fotos zu erkennen: Menschen die am Karl-Liebknecht-Stadion nach Karten anstehen, Leute am Frühstückstisch, sogar Auto-Kennzeichen sind zu lesen. „Die Leute sollen aufpassen, dass kein Flugzeug über sie fliegt, wenn sie Liebe machen“, sagt Hannemann und schmunzelt. Den Auslöser würde er in solchen Fällen nicht abdrücken, verspricht er. Außerdem werden ihm nicht überall Einblicke gewährt: Im VW-Design-Center an der Schiffbauergasse verdecken Vorhänge die Sicht durch das Glasdach. Der Forschungsreaktor im nahen Berlin-Wannsee darf nicht überflogen werden, auch der Griebnitzsee nicht.

Wie oft er schon in die Luft gegangen ist, kann Hannemann nicht sagen. Natürlich habe es auch Schreckmomente gegeben: Im Helikopter ging der Treibstoff aus – in einem Flugzeug ein kleineres Problem, „aber ein Helicopter fällt einfach runter“, sagt Hannemann. Die Notlandung hat er überstanden, auch den Reifenplatzer oder einen Motoraussetzer an einer Cessna. „Ich setze mein Leben für die Fotos ein“, sagt Hannemann.

Etwa drei bis vier Euro kostet eine Flugminute in einer kleinen Cessna, zuzüglich Flughafengebühren. Bei Flügen über Berlin schlagen allein die Überfluggenehmigungen mit 620 Euro zu Buche – Ausgaben, die Hannemann vorfinanzieren muss. „Ich bekomme nur Geld, wenn ich ein vernünftiges Foto abliefere“, sagt er. „Man verdient sich nicht tot mit dem Ganzen, aber es macht Spaß.“

Das Wetter muss stimmen. Vor jedem Flug steht Hannemann auf dem höchsten Deck eines Baumarkt-Parkhauses in Potsdam und beobachtet den Himmel. „Wenn es richtig windig ist, fliege ich am liebsten, dann ist die Sicht klar“, sagt er. Blitzschnell könne sich das Wetter aber auch ändern. Ziehen Wolken auf, ist auf den Bildern nichts mehr zu sehen. „Das ist der fotografische Albtraum.“

Rumpelnd setzt die Cessna 172 nach dem Flug über Potsdam auf der Rasenlandefläche am Saarmunder Flugplatz auf. Noch während die Räder über das Gras holpern, zieht Hannemann seine Fliegermütze vom Kopf. „Die Aufnahmen sind gut geworden“, sagt er und nästelt an seiner Brusttasche. „Das ist eine Abmachung mit meiner Frau“, sagt Hannemann und zieht ein Handy hervor. „Wir sind sicher gelandet“, ruft er in das Telefon. Noch nie hat er die Abmachung nicht eingehalten.

Transparenzhinweis: Am 15. April 2025 hat die Zeitung „Die Welt“ eine Recherche unter Berufung auf Akten des Stasi-Unterlagen-Archivs öffentlich gemacht, laut der Lutz Hannemann von 1976 bis 1989 als Inoffizieller Mitarbeiter (IM) für die DDR-Staatssicherheit aktiv gewesen und privateste Details über seine damaligen Kollegen auf dem Telegrafenberg an die Stasi weitergetragen haben soll. Die Vorwürfe waren bei Entstehung dieses Textes nicht bekannt.

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