Potsdamer Experte zur Krise der EU: „Das ist nicht das Ende der EU“
Der Politologe der Universität Potsdam, Henrik Scheller, sieht die Krisen der EU auch als Wechselspiel zwischen Phasen der Integration und dem Auseinandertriften. Von der aktuellen Lage seien allerdings auch Wissenschaftler überrascht worden.
Stand:
Herr Scheller, droht die aktuelle Flüchtlingskrise die Europäische Union zu spalten? Kann die Union daran sogar zerbrechen?
Der Begriff „Spaltung“ suggeriert ein Untergangszenario. Keine Frage: Momentan findet eine Lagerbildung zwischen den Mitgliedstaaten statt, die der Idee von einer solidarischen und zusammenwachsenden Union widerspricht. Das eigentliche Problem ist jedoch, dass wir den europäischen Integrationsprozess seit jeher als Einbahnstraße in Richtung von immer mehr Integration verstanden haben. Auch in der Wissenschaft sind wir nicht vorbereitet gewesen, um Krisen von diesem Ausmaß zu erklären. Wenn wir europäische Integration stärker als Wechselspiel zwischen integrativen und desintegrativen Phasen verstehen würden, fiele es uns leichter, auch die gegenwärtigen Krisen differenzierter zu beurteilen.
Angesichts der teilweise wieder eingeführten Grenzkontrollen in der EU: Ist die Idee von Schengen gescheitert?
Momentan ist von Schengen – also der grenzüberschreitenden Freizügigkeit ohne Passkontrollen – tatsächlich nicht viel übrig geblieben. Zwar dürfen Grenzkontrollen kurzzeitig jederzeit wieder eingeführt werden, allerdings ist natürlich das Bild von Stacheldrahtzäunen und sich schließenden Eisentoren verheerend. Aber auch hier gilt: die gegenwärtige Sondersituation begründet nicht das Ende der EU.
Das Problem Griechenland hatte die Gemeinschaft ja gerade bewältigt. Oder sieht das es nur so aus?
Von einer Bewältigung der Griechenland-Krise kann keine Rede sein. Mit dem letzten Rettungspaket ist erneut Zeit gekauft worden. Es wird abzuwarten sein, wie sich die Wirtschaft nach der jüngsten Parlamentswahl entwickelt. Griechenland stellt sicherlich einen Spezialfall dar. Gleichwohl weisen auch Spanien, Italien, Zypern, Portugal und selbst Belgien – trotz aller anders lautender Aussagen in der deutschen Politik – nach wie vor Schuldenstände von zum Teil weit über 100 Prozent des Bruttoinlandsprodukts auf – ganz zu schweigen von extrem hohen Arbeitslosenquoten und den damit verbundenen sozialen Verwerfungen.
Was wird nun aus dem Euro. Bleibt die Frage nach dem Grexit weiter aktuell?
Der Euro ist in der gesamten Krise stabil geblieben und wird als zweitwichtigste Reservewährung der Welt fortbestehen. Angesichts dieser globalen Bedeutung werden die Staats- und Regierungschefs alles daran setzen, einen Erhalt der gemeinsamen Währung sicherzustellen. Ein substanzieller Schuldenschnitt in den Krisenstaaten ist dafür jedoch unausweichlich.
Sie haben auf einer politikwissenschaftlichen Tagung an der Potsdamer Universität nun die Frage gestellt, ob die Politisierung der EU Chance oder Risiko ist. Was ist dabei herausgekommen?
Zunächst einmal stellen wir fest, dass sich immer mehr Menschen mit Fragen der EU befassen. Dies ist positiv, verwundert aber kaum. Denn besonders in den gegenwärtigen Krisen wird sichtbar, wie stark die EU inzwischen in den Lebensbereich der Menschen eingreift. Dies polarisiert und lässt neue Parteien und Protestbewegungen entstehen. Diese neue Diskurskultur birgt Chancen, da Europapolitiker auf allen Ebenen ihr Tun noch stärker rechtfertigen müssen. Populistische Parteien oder radikale Bewegungen bergen aber auch Risiken, wenn sie dem System ihre Zustimmung gänzlich verweigern und in destruktiver Weise dagegen polemisieren.
Ihre Vision für die Zukunft der Europäischen Union?
Die EU wird auf absehbare Zeit unter Beweis stellen müssen, ob sie in der Lage ist, die ganz neuen, mit der Flüchtlingswelle verbundenen Integrationsleistungen administrativ und menschlich zu bewältigen. Darüber dürfen Politik und Bürger aber nicht vergessen, wieder Visionen für eine Demokratisierung der EU auf die Agenda zu setzen. Die Politisierung der EU muss Anlass sein, darüber nachzudenken, wie der technokratische Politikstil in Europa überwunden werden kann. Das kostet Zeit, Geld und Nerven, sollte es aber der EU und ihren Mitgliedern wert sein.
Das Interview führte Jan Kixmüller
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