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Landeshauptstadt: Das Kinderschloss

Siebzig Zimmer und geheimnisvolle Winkel: In Boitzenburg wird heute gezaubert und Versteck gespielt

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Für die meisten Kinder steht der Favorit im Schloss fest. Es ist das „Oma-Zimmer“. Hier schmückt schönster Stuck die Decke. Der Blick aus dem Fenster im zweiten Stock fällt auf einen Park mit Teich, und an einer Wand steht ein uralter Kachelofen mit zwei offenen Ablagen für Speisen und Getränke. Die kuschelige Wärme der Ofenkacheln blieb bis 1945 stets dem ältesten Mitglied der im Schloss residierenden Familie vorbehalten. Das war die Oma, manchmal die Uroma. Damit diese Bewohnerin nicht durch Kohle nachlegendes Personal gestört wurde, befand sich die Ofenöffnung auf dem Flur.

Das alles stößt zwar bei den heutigen Kindern auf Interesse, aber am meisten freuen sie sich über das hier in eine Wandnische eingebaute Doppelstockbett. Da können sie toben, sich verstecken und fühlen sich wie Schlossbesitzer. Boitzenburg in der Uckermark macht''s möglich.

Seit 2003 gehört das größte Brandenburger Schloss außerhalb der preußischen Residenzen fast vollständig Kindern und Jugendlichen. Sogar Kita-Gruppen genießen die vielen Angebote im Gebäude und dessen Umgebung. Dennoch fällt es angesichts der imposant wirkenden Architektur schwer, von einer Jugendherberge zu sprechen. Manchmal wird ein gewagter Vergleich gezogen und das „Neuschwanstein des Nordens“ beschworen. Mit seinen Türmchen, Giebeln, Zinnen und feuerspeienden Drachen wirkt es tatsächlich so reich, als hätte der Baumeister aus dem Vollen schöpfen können.

„So schön wie jetzt hat das Schloss in seiner fast 500-jährigen Geschichte aber noch nie ausgesehen“, räumt Marketingchefin Olivia Schimmelpfennig ein. „Außen war es immer grau. Heute glänzt das alte Renaissanceschloss von 1537 in Weiß, das benachbarte und im 19. Jahrhundert grundlegend veränderte Neue Schloss dagegen in Ocker.“ Auf die Idee eines Kinder- und Jugendhauses, ergänzt durch einen kleinen Hotelflügel, war Ende der Neunzigerjahre der Hamburger Reiseveranstalter Oliver Erbacher gekommen. Das Nachfolgeunternehmen der Treuhandanstalt, die DDR-Vermögen zuvor privatisierte, suchte damals nach einem Käufer für das einstige Hauptschloss der Familie derer von Arnim. Diese hatte hier von 1528 bis zur Vertreibung im Jahr 1945 residiert und sich in der ganzen Uckermark verbreitet. Fällt heute irgendwo der Name, wird meist die Verbindung zum Romantiker Achim von Arnim gesucht. Die Beziehungen seiner Frau Bettina Brentano zu Goethe und Beethoven sind ebenso bekannt wie ihr Schloss Wiepersdorf im Süden Brandenburgs. Viele Familienangehörige kehrten nach der Wiedervereinigung in die uckermärkische Heimat zurück. Auf Arnims oder deren Nachfahren trifft man unter anderem in Kröchlendorff, Groß-Fredenwalde, Gerswalde, Lichtenhain, auf Gut Blankensee bei Gerswalde und in Buchenhain. Für kurze Zeit schien es sogar so, als würde sich auch ein Familienmitglied des Schlosses annehmen. Adolf-Heinrich Graf von Arnim, 1930 als Kind aufs Schloss gezogen und 1945 vor der Sowjetarmee geflüchtet, bekundete sein Interesse. Als aber die erhoffte kostenlose Rückgabe des alten Eigentums wegen der Anerkennung der Bodenreform von 1945 nicht möglich wurde, ließ sich der Graf mit seiner Frau in Mahlendorf unweit von Boitzenburg nieder. Dort kaufte sich das Paar das Schlösschen, in dem sich zu DDR-Zeiten der DDR-Sportchef Manfred Ewald erholt hatte.

„Der Renovierungsaufwand in Boitzenburg ist zu hoch“, befand der Werbefachmann nach einer Besichtigung. Bis zu seinem Tod im Februar 2005 weilte er deshalb nur als Gast im Familienstammschloss. Den Restauratoren gab er wertvolle Hinweise zum ursprünglichen Aussehen der Säle. Die Veränderungen trafen seinen Geschmack. „Als Kind mochte ich das Schloss nicht“, sagte er . „Es hatte keine Atmosphäre für Kinder.“

Heute würde er anders urteilen, auch wenn zu seiner Zeit an Harry Potter noch nicht zu denken war. Aber in diesem Kostüm streifen die Kinder am liebsten durch die vielen geheimen Schlosswinkel mit mehr als 70 Zimmern. Eine Zauberschule gehört zum Angebot wie ein Tonstudio, Kanupartien oder Ausritte.

Dem Plan, so einen mächtigen Bau zum Ziel von Klassenfahrten zu machen, lag anfangs ein Trugschluss zugrunde. Im fernen Hamburg hatte der Reiseveranstalter die Unterlagen über Boitzenburg studiert. Da war von einem „Erholungsheim der Nationalen Volksarmee“ die Rede. Zwischen 1955 und 1990 machten hier Offiziere und ihre Familien Urlaub. Der Wessi kam zum Schluss, dass die DDR-Führung ihrer NVA-Spitze bestimmt besten Komfort geboten hätte. Ein paar Umbauten würden genügen. Selbst die ersten Besichtigungen vermittelten einen oberflächlich guten Eindruck. Erbacher zahlte die symbolische eine Mark.

Erst die Architekten stellten überall Hausschwamm fest. Hinter hässlichen Einbauten war die historische Bausubstanz kaum noch erkennbar. Außerdem besaß kein Zimmer eine eigene Toilette. Am Ende standen 43 Millionen Euro auf der Rechnung – und der Besitzer geriet wegen Verdachts auf Subventionsbetrug in die Schlagzeilen. Die Ermittlungen laufen noch. Inzwischen wurde das Schloss an einen Geschäftsmann weiter verkaufte.

Den Kindern im Oma-Zimmer und den Hotel- und Restaurantgästen ist das ohnehin egal. Sie fühlen sich wohl im „Neuschwanstein des Nordens“.

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