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Homepage: „Das Kriegsgefühl hielt an“

Der Potsdamer Historiker Rüdiger Bergien über das Ende des Ersten Weltkriegs und die Bedeutung der Nachkriegskämpfe für die Radikalisierung in der Weimarer Republik

Stand:

Herr Bergien, es wird in diesem Gedenkjahr viel über die Ursachen des Ersten Weltkrieges gesprochen. Warum sollten wir auch das Ende genauer betrachten?

Weil der Kriegsverlauf und besonders die Art und Weise, wie dieser Krieg endete, die deutsche Nachkriegsgesellschaft sehr nachhaltig geprägt hat. Bis Anfang August 1918 ging die deutsche Öffentlichkeit noch davon aus, dass der Sieg unmittelbar bevorstünde. Wenige Wochen später erfuhr sie, dass das deutsche Heer so gut wie geschlagen war und die deutsche Regierung musste die alliierten Kriegsgegner um einen Waffenstillstand bitten. Dieser ganz steile Absturz im Herbst 1918 war das Trauma der Weimarer Republik.

Am 11. November 1918 beendete der Waffenstillstand den Ersten Weltkrieg. Doch war der Krieg wirklich vorbei?

Der Waffenstillstand hat zwar den großen Krieg beendet. Doch unter der Oberfläche setzte sich eine Vielzahl kleiner, vielfach irregulärer Kriege fort.

Welche Konflikte waren das?

Aus deutscher Sicht vor allem die Nachkriegskämpfe in den preußischen Ostprovinzen. Bis in den März 1919 kämpften deutsche gegen polnische Truppen in der Provinz Posen und in Hinterpommern, in Oberschlesien kam es noch im Mai 1921 zu schweren Kämpfen zwischen polnischen Paramilitärs und deutschen Freikorps. Es gab auch innerhalb Deutschlands bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen, etwa in Berlin im Januar und März 1919. Nach dem Kapp-Lüttwitz-Putsch im März 1920 gingen Reichswehreinheiten und Freikorps ausgesprochen brutal gegen die „Rote Ruhrarmee“ vor, mehr als 1000 Ruhrarbeiter verloren ihr Leben. Auch in anderen Teilen Europas wurde weitergekämpft, besonders in der Sowjetunion, im Baltikum, in Italien. Der Krieg war zwar zu Ende, aber die Gewalt fand kein Ende und das Kriegsgefühl hielt an. Das prägte die Wahrnehmung der Menschen sehr stark

und hatte Folgen.

Diese Nachkriegskämpfe waren für die politische Radikalisierung in der Weimarer Republik mindestens ebenso wichtig wie der gesamte Krieg zuvor. Der Rechtsterrorismus etwa, dem in den frühen 1920er-Jahren Republikaner wie Walter Rathenau zum Opfer fielen, wurde von Angehörigen radikaler Freikorps getragen, die 1919 im Baltikum gekämpft hatten und sich dort immer wieder von der Reichsregierung im Stich gelassen gefühlt hatten. Der scharfe Links-Rechts-Gegensatz, der die Weimarer Republik so stark belastete, hatte viel damit zu tun, dass Kommunisten und Nationalisten in den ersten Nachkriegsmonaten um die Gestaltung der neuen Ordnung kämpften, aber ein liberal-demokratisches System entstand, das nun in Opposition zu beiden geriet. Die politische Radikalisierung in den frühen 1930er-Jahren knüpfte genau an diese Erfahrungen wieder an.

Lässt sich ein Krieg überhaupt nachhaltig beenden?

Es lässt sich jedenfalls nur sehr schwer sagen, wie man diesen Krieg hätte besser beenden können. Die vierjährige Feindbildpropaganda hatte auf allen Seiten Spuren hinterlassen. Für Teile der französischen Bevölkerung war der Versailler Vertrag noch viel zu milde, die Forderungen gingen bis zur Auflösung des Deutschen Reiches. Da ist es fraglich, wie ein Frieden hätte aussehen sollen, der in Deutschland mit weniger Verbitterung aufgenommen worden wäre. Natürlich hatte Versailles auch einige unnötige Schärfen enthalten, etwa den berüchtigten Kriegsschuldartikel und die Forderung nach Auslieferung der deutschen Kriegsverbrecher bis hin zum Kaiser selbst.

Wie verhielten sich die Siegermächte gegenüber der neuen Regierung?

Die Deutschen hatten gehofft, mit einer republikanischen Regierung mildere Friedensbedingungen zu erhalten, aber dieses Kalkül ging nicht auf. Dennoch eröffnete der Versailler Vertrag den Deutschen auch Chancen: Deutschland blieb als relativ starker Nationalstaat erhalten, das wirtschaftliche Potenzial blieb im Wesentlichen unangetastet. Darauf hätte man aufbauen können. Doch nach dem Schock der Niederlage fühlte man sich in erster Linie gedemütigt.

Der Ausgang des Krieges wurde in Deutschland als nationale Katastrophe empfunden. Wurde dadurch der nächste Krieg programmiert?

Der sogenannten Kontinuitätsthese, also der Annahme, dass sich der Zweite Weltkrieg quasi automatisch aus dem Ersten ergab, stimme ich nicht zu. Die Forschung konzentriert sich in jüngerer Zeit auch sehr viel mehr auf das Potenzial der Weimarer Republik. Man will sie nicht allein an ihrem Scheitern messen, sondern auch zeigen, welche Leistungen dieser Staat vollbracht hat: zum Beispiel die Leistungen für die Kriegsbeschädigten und -veteranen, die Wiederbelebung der Wirtschaft. Außenminister Gustav Stresemann gelang es sogar, Deutschland wieder internationales Renommee zu verschaffen. Da waren viele Ansätze für Entwicklungen, die die Weimarer Republik in eine andere Richtung hätten führen können. Aufgrund der Entwicklung nach 1933 schauen wir heute stark nach den Wurzeln der Katastrophe. Diese Perspektive wird der ersten deutschen Demokratie aber nicht gerecht.

Die Friedenskonferenz von Paris 1919 war also gar nicht so entscheidend?

Jedenfalls wäre es eine verengte Sichtweise, die ganze kommende Entwicklung darauf zu fokussieren. Das hebt einseitig auf die Schwächen der Friedensordnung ab, aber es gab auch nach 1919 noch viele weitere politische Scheidewege.

Sie haben sich genauer angeschaut, wie das Militär auf die Niederlage reagiert hat.

Für die Masse der Soldaten war das Kriegsende eine große Erleichterung. Wenn man sich ansieht, wie schnell das deutsche Heer bereits seit dem Spätsommer 1918 auseinanderfiel, ist klar, dass die Soldaten den Krieg satt hatten, die wollten nach Hause. Da war von patriotischer Stimmung nicht mehr viel übrig geblieben.

Und bei den führenden Militärs?

Bei den Offizieren sah das schon anders aus, hier gab es eine ambivalente Haltung. Es gab die große Enttäuschung über die Niederlage und auch eine Verbitterung gegenüber der Novemberrevolution. Weite Teile des Offizierkorps glaubten an die von Paul von Hindenburg in die Welt gesetzte Dolchstoßlegende, wonach die politische Linke dem kämpfenden Heer in den Rücken gefallen sei. Andererseits waren gerade viele adlige Offiziere schockiert darüber, dass Kaiser Wilhelm II. im November 1918 nach Holland ins Exil ging. Es war für viele gar nicht zu fassen, dass der Monarch, dem man einen persönlichen Treueeid geschworen hatte, für den man vier Jahre seine Haut hingehalten hat, sich nun gewissermaßen davonstahl. Dadurch war der monarchische Gedanke im Offizierkorps doch zumindest beschädigt.

Das Militär war aber trotzdem gegen die Republik?

Nicht unbedingt, in der Situation 1918/19 war noch vieles offen. Viele Offiziere waren nicht von vornherein Republikgegner, sondern zunächst einmal tief verunsichert. Es gab auch hohe Offiziere wie den preußischen Kriegsminister General Walther Reinhardt, die bereit waren, mit den neuen republikanischen Organen zusammenzuarbeiten. Einen Bruch brachte dann die Entwicklung von 1919/20, der Versailler Vertrag mit der radikalen Entwaffnung Deutschlands, der Tausenden von Berufsoffizieren ihre berufliche Existenz nahm. Teile dieser Gruppe waren dann die Trägerschicht der Wehrverbände und der militanten Vereinskultur der 1920er-Jahre. In diesen Kreisen ging man davon aus, dass die republikanischen Regierungen nicht in der Lage waren, für inneren Frieden zu sorgen, das System zu stabilisieren. Man meinte, auf eine andere Zukunft hinarbeiten zu müssen.

Eine besonders brisante Entwicklung?

Das war ein großer Unterschied zur Situation nach 1945. Hier gab es zwar auch in beiden Teilen Deutschlands Zehntausende ehemaliger Wehrmachts- oder auch Waffen-SS-Offiziere, aber von diesen ging nie eine politische Gefahr aus. Und dies nicht nur, weil sie 1945 im Unterschied zu 1918 eine totale militärische Niederlage erlebt hatten, sondern auch, weil sie, besonders in Westdeutschland, erlebten, dass das neue Staatswesen stabil war, dass es in der Lage war, Gehälter zu zahlen und dass die Pensionskassen gefüllt waren. Das war in den 1920er-Jahren eine ganz andere Lage. Da hatte Weimar den Offizieren und Soldaten weniger zu bieten.

Sie selbst haben sich in Ihren Forschungen besonders mit der geheimen Rüstung der Weimarer Republik beschäftigt. Inwieweit lief die Aufrüstung in den 1920er-Jahren im Verborgenen ab?

Am 1. Januar 1920 trat der Versailler Vertrag in Kraft und ab Sommer 1920 dann auch dessen Entwaffnungsbestimmungen, die eine 100 000-Mann-Obergrenze für das Reichsheer und 15 000 Mann für die Reichsmarine festlegten. Auch schwere Artillerie, Kampfflugzeuge, U-Boote und die Wehrpflicht inklusive eines Wehrersatzsystems waren verboten. Die Reichswehrführung akzeptierte diese Bestimmungen zu keinem Zeitpunkt, aus ihrer Sicht konnte sie unter diesen Bedingungen ihren Auftrag – die Landesverteidigung – nicht erfüllen. Also arbeitete sie im Geheimen an der Aufstellung personeller Reserven für das Reichsheer. Zunächst plante man, die überall aus dem Boden schießenden Wehrverbände als Reservearmee zu nutzen. Es zeigte sich aber schnell, dass diese Verbände nur bedingt zu kontrollieren waren. So gab es Verbindungen zwischen von der Reichswehr protegierten Wehrverbänden und der „Organisation Consul“, die Attentate auf Politiker der Weimarer Republik verübte.

Was änderte sich dann im Laufe der 1920er-Jahre?

Ab 1924/25 begann so etwas wie eine systematische geheime Aufrüstung. Der Einfluss der Wehrverbände wurde begrenzt, die Reichswehr legte mehr Wert darauf, die Oberhoheit zu behalten. Ende der 1920er-Jahre standen dann 30 000 bis 40 000 Mann in Milizverbänden in den Ostprovinzen. Auch gab es eine Art geheimes Mobilmachungssystem im Reichsinneren – was natürlich alles gegen den Versailler Vertrag verstieß. Wichtig dabei: Reichsregierungen und zivile Behörden deckten diese Rüstungen, zum Beispiel indem sie die Militärkontrollen der Alliierten behinderten. Man kann von einem engen Zusammenspiel zwischen Militär und Reichsregierung sprechen, auch wenn die Regierung nicht in alle Einzelheiten eingeweiht war.

Welche Folge hatte diese Geheimrüstung?

Bis 1929, als die Weimarer Republik leidlich stabil war, funktionierte dieses System einigermaßen. Aber vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise und der politischen Radikalisierung ab 1929 griff die Reichswehr doch wieder stärker auf die rechtsradikalen Wehrverbände zurück, die nun am ehesten noch in der Lage waren, Freiwillige zu mobilisieren. In den frühen 1930er-Jahren drängte zunehmend auch die SA in die geheimen Grenzschutzmilizen im Osten. Hitler hatte zwar eine Kooperation mit dem Rüstungsprogramm der Regierung ausgeschlossen, doch für örtliche SA-Führer war eine Teilhabe attraktiv, sie brachte eine Waffenausbildung und Statusgewinn. Es gab dann auch eine große Aufgeschlossenheit vieler Reichswehroffiziere gegenüber dem Nationalsozialismus. Sie schätzten die SA wegen ihres disziplinierten und militärischen Auftretens und sahen sie nun als Reservearmee. Hier war ein von der Regierung geschützter Raum entstanden, in dem sich Reichswehr und SA annähern konnten. Das war wichtig, auch für die Entwicklung nach 1933.

Wie stark war die neue Armee durch Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg geprägt?

Weniger, als man erst einmal erwarten würde. Hans von Seeckt, der erste Chef der Heeresleitung der Reichswehr, hatte 1920 in der Regel die Offiziere übernommen, die bereits vor 1914 in der Armee waren, die eine Stabsausbildung hatten und noch im Frieden ausgebildet worden waren. Von den Frontoffizieren erwartete man nicht, dass sie eine Friedensarmee aufbauen konnten. Was dazu führte, dass gerade die ehemaligen Frontkämpfer sich zum politischen Radikalismus hin orientierten. Denn sie standen mehr oder weniger geschlossen auf der Straße.

Der Krieg war aber nicht vergessen?

Natürlich arbeitete die Reichswehr die Kriegserfahrungen auf. Der Erste Weltkrieg war der zentrale Bezugspunkt. Aufgrund der erzwungenen radikalen Abrüstung war die Reichswehr aber eher in der Lage, sich auf neue Kriegsszenarien einzulassen. Vieles, was ab 1939 als besondere Stärke von Hitlers Wehrmacht erschien – etwa der offensive Einsatz von Panzern im Verbund mit der Luftwaffe –, war in den 1920er-Jahren vorgedacht worden. Im Kontrast etwa zum französischen Heer, das ganz stark an seiner defensiven Taktik festhielt, mit der es im Weltkrieg Erfolg gehabt hatte. Die Reichswehr dachte die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges weiter, während die siegreichen Heere des Krieges an ihren Erfolgsrezepten festhielten – was dann im Zweiten Weltkrieg anfänglich zu ihrem Nachteil sein sollte.

Das Gespräch führte Jan Kixmüller

100 Jahre nach Beginn des Ersten Weltkriegs sprechen die PNN in diesem Jahr mit Potsdamer Wissenschaftlern über Hintergründe, Begebenheiten und Auswirkungen dieses Krieges

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