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Afghanistan-Blog: Das Leben in Kabul

Nahtoderfahrungen im Straßenverkehr, Anschläge per SMS: PNN-Redakteurin Katharina Wiechers ist auf einer Pressereise im afghanischen Kabul. Lesen Sie hier ihren Blog.

Von Katharina Wiechers

Stand:

Nachtrag

Am Abend des letzten Tages sitzen wir zu Hause und sind gerade mit dem Essen fertig, als der nächste Anschlag per SMS gemeldet wird. "Explosion in der Nähe von Wazir Akbar Khan", steht dort. Wazir Akbar Khan ist ein Viertel, in dem mehrere Botschaften ihren Sitz haben und viele Ausländer wohnen. Einige Minuten später ist klar, dass es das Libanesische Restaurant getroffen hat, in dem Botschafts- und NGO-Mitarbeiter gerne essen gehen. Es ist eines der wenigen Restaurants in Kabul, dass offiziell als sicher gilt. Auch für uns hatte es zur Auswahl gestanden, hätten wir uns nicht kurzfristig dazu entschieden, zu Hause zu essen.

Das erste Mal sind die Menschen hier wirklich nervös. Das Telefon klingelt, man will sich versichern, dass niemand dort drin ist. Auf Twitter heißt es, die Schießerei dauert noch an. Im Fernsehen berichtet ein Reporter live vor Ort, hektische Männer in Uniform sind zu sehen, Absperrungen und Blaulicht.

Ich zähle noch einmal nach. Es ist der vierte Anschlag in sechs Tagen. Doch dieser galt nicht der Polizei oder einem Stammesältesten, sondern der internationalen Gemeinschaft, den Zivilisten aus dem westlichen Ausland. Ich denke an die Deutschen, Amerikaner und Briten, die ich in den vergangenen Tagen getroffen habe und die von ihren Projekten und Zielen für das neue Afghanistan gesprochen haben. Es war ein Anschlag auf sie.

Tag sechs in Kabul

Ein letztes Mal werde ich durch die Stadt gefahren. Es ist Freitag, also der wöchentliche Feiertag, und im Vergleich zu sonst ist fast nichts los auf den Straßen. Statt dem sonst üblichen Dauerstau herrscht jetzt ein Verkehr, der dem in Potsdam oder Berlin etwa gleichkommt - zur Rushhour.

Im Vorbeifahren lese ich die Schilder über den Geschäften, so sie denn nicht nur auf Dari sind. Mit der Schreibweise nehmen es viele nicht so genau. "Resturant" steht dort zum Beispiel in großen Leuchtbuchstaben, oder "Phamacy". Eine Internetfirma wirbt mit dem Werbespruch "Connecting Afghanitan". Mitten auf der Straße stehen wie immer Männer, die Luftballons anbieten oder mit Prepaid-Karten für das Handy wedeln. Manche haben dicke Bündel mit Scheinen in der Hand - auch Geld wechselt man einfach durchs Autofenster. Immer wieder tauchen an den Kreuzungen Jugendliche mit Sandalen und schmutzigen Gesichtern auf, die die verstaubten Autos für ein paar Afghani mit einem Lumpen wischen.

Einiges habe ich in den vergangenen sechs Tagen über das Autofahren durch Kabul gelernt, zum Beispiel die verschiedenen Bedeutungen des Hupens. In der Minute hupt jeder ungefähr 17 Mal, dementsprechend ist der Geräuschpegel. Hupen kann heißen "ich fahr jetzt los", "hier bin ich schon" oder "ich zuerst". Aber auch "du zuerst", "weg da" oder "hey, spinnst du?". Schilder gibt es nur sehr selten, Ampeln ein paar. Doch noch nie habe ich gesehen, dass jemand bei Rot anhält. Eigentlich gilt Rechtsverkehr, doch das verstehen die Afghanen wohl mehr als Empfehlung. Sobald es ihnen zu voll wird, wechseln sie auf die Gegenfahrbahn - meist begleitet von einem Hupen.

Manches habe ich aber in all den Tagen nicht verstanden. Zum Beispiel, warum ich trotz dieser mehr als abenteuerlichen Fahrweise keinen einzigen Unfall gesehen habe. Oder warum die Autos bei diesen metertiefen Schlaglöchern nicht augenblicklich auseinanderfallen. Ich rechne aus, dass ich in ungefähr 24 Stunden über die Berliner Stadtautobahn fahren werde. Alle Autos werden auf ihrer Spur bleiben, jedes mit gleichmäßigen 80 Stundenkilometern unterwegs sein. Und keiner wird Hupen. Unvorstellbar.

Tag fünf in Kabul

Auf dem Rückweg von einem Termin halten wir am Straßenrand, der Fahrer soll Äpfel und Orangen mitbringen. Direkt neben der mehrspurigen Straße im Zentrum von Kabul reiht sich hier ein Stand an den nächsten, vor jedem sind Kisten und durchsichtige Plastiktüten voller appetitlich aussehender Früchte drapiert. Zwischen der asphaltierten Fahrbahn und dem Lehmboden, auf dem sie stehen, fließt ein stinkendes, schmutziges Bächlein. Die Rinnsteine sind hier fast einen halben Meter breit und ziemlich tief, sie dienen nicht nur als Regenwasserabfluss, sondern auch als Mülleimer und mancherorts sogar als Kloake. Der Fahrer macht eine ungeschickte Bewegung und ein paar der roten Äpfel kullern in die dunkelgraue Brühe. Fast zeitgleich hält vor uns ein Kleinbus und aus dem Beifahrerfenster fliegt eine volle Plastiktüte in den kleinen Kanal. Wir fahren weiter und ich nehme mir vor, nur die Orangen zu essen.

Zum Mittagessen hat die Haushälterin Kabuli gekocht, sozusagen das Nationalgericht Afghanistans. Die Hauptzutat ist Reis, gemischt mit Fleisch, Rosinen, Gewürzen und dünnen Karottenstreifen - jetzt wird mir auch klar, wofür man die orangenen Fäden braucht, die hier tütenweise verkauft werden. An Fleisch habe ich bislang vor allem Schafsfleisch gegessen, sei es im Kabuli oder als Kabob, einer Art Schaschlik. Die Tiere sind in Kabul allgegenwärtig, tot oder lebendig. Sie werden als Herde durch die Straßen getrieben oder hängen gehäutet kopfüber vor den Fleischer-Läden. Das sieht ein bisschen seltsam aus, weil die Schafe hier einen riesigen Hintern haben. Genaugenommen ist es der Schwanz, in dem die Tiere - ähnlich wie Kamele im Höcker - ihr Fett speichern. Das Fleisch selbst ist dafür zart und schmeckt sehr mild.

Einen Tag zuvor sind wir in einen Ort etwas außerhalb von Kabul gefahren. "Im Sommer ist hier alles grün", sagt man mir und ich kann es mir kaum vorstellen. Jetzt ist alles beige: die Lehmhäuser mit den Lehmmauern drumherum heben sich farblich kaum von der kargen, staubigen Landschaft ab. Nach einer Weile sehe ich auch mit niedrigen Mauern umfriedete Felder, auf denen kleine, knorrige Bäumchen wachsen. Ich frage nach: an den Bäumchen wachsen im Sommer die Trauben.

Auf saftige Wiesen und üppige Felder muss ich zwar verzichten, nicht aber auf den Genuss von afghanischen Trauben. Für 100 Afghani (1,30 Euro) erstehen wir am Feldrand ein tellergroßes, UFO-förmiges Lehmbehältnis und öffnen es zu Hause mit einem Hammer. Im Inneren sind hellrote Trauben, die Ernte vom vergangenen Herbst. Kühlschrank auf afghanisch. 

Tag vier in Kabul

An den Anblick von Waffen hat man sich in Kabul schnell gewöhnt. Schon auf dem Rollfeld ist vom Flugzeugfenster aus ein Soldat mit Gewehr zu sehen, in der Stadt steht gefühlt alle 50 Meter ein bewaffneter Mann. Vor Hotels und größeren Büros, vor Einkaufszentren und vor den mit Stacheldrahtzaun und Sandsäcken geschützten Botschaften sowieso. Hinzu kommen noch die Checkpoints entlang des "Ring of steel" rund um die Kabuler Innenstadt, die mit Polizisten besetzt sind - auch den Uniformierten baumeln die Kalaschnikows um den Hals.

Dass auch manche Privathäuser von Bewaffneten bewacht werden, erscheint mir zunächst ein bisschen übertrieben. Doch dann kommt die nächste Warn-SMS, und ich verstehe. "No movement", also "keine Bewegung" steht darin, und dazu der Name einer Straße nur einen Block von unserer Unterkunft entfernt. Gerade erst sind wir nach Hause gekommen, vor wenigen Minuten sind wir dort noch entlang gefahren. Später wird klar, was passiert ist. In nur etwa 100 Metern Luftlinie entfernt wurde das Haus eines Stammesältesten angegriffen. Ein Mann, bewaffnet mit einer AK 47, einer Handgranate und einem Sprengstoffgürtel, versuchte einzudringen. Er schaffte es noch, die Granate über die Mauer zu werfen, dann wurde er von den Sicherheitsmännern am Tor erschossen.

Jetzt bin ich ziemlich froh, dass auch an unserem Tor zwei Wächter stehen und aufpassen. Tag und Nacht ist mindestens einer von ihnen da, nie ist man allein auf dem Grundstück. Und sie machen nur auf, wenn einer der Fahrer sich mit dem Walkie-Talkie von draußen meldet.

In dem großen Metalltor ist auch eine kleine Fußgängertür eingebaut, doch die wird quasi nie benutzt. Jeder, der kann, bewegt sich ausschließlich mit dem Auto durch Kabul. Im Innenhof setzt man sich in den Wagen, im Innenhof steigt man wieder aus. Das ist umständlich, unspontan und auf Dauer sicherlich auch ungesund - schon nach drei Tagen fühle ich mich irgendwie eingerostet. Erst am vierten Tag mache ich die ersten paar Schritte zu Fuß. Ich bin mit einer anderen Europäerin unterwegs, und nahezu jeder Mann, an dem wir vorbeikommen, spricht uns an. Wir ziehen das Kopftuch ins Gesicht und gehen schneller. Als wir wieder ins Auto steigen, bin ich erleichtert. Auch das habe ich verstanden.

Tag drei in Kabul

Während wir durch Kabul fahren, erzählt der Fahrer ein wenig von sich. Sein drei Monate alter Sohn war gerade im Krankenhaus, eine Woche lang. "Die Kälte ist nicht gut für Kinder", sagt er zur Erklärung. "Viel Husten." Dann kommt er auf seinen Vater zu sprechen. Er arbeitet in Kabul bei der Polizei. Nein, zufrieden sei er damit nicht. Gerade einmal 200 Dollar verdient er im Monat. "Afghanistan ist teuer. Mit 200 Dollar kann man nichts machen."

Zum Beispiel heiraten. In der ganzen Stadt stehen riesige "Wedding Halls", fensterlose Klötze mit bunten Plastikfassaden. Wer kann, lädt dorthin zu seiner Hochzeit ein - und verschuldet sich damit nicht selten für Jahre. 50 000 Dollar hat der Angestellte eines Bekannten neulich für seine gezahlt. Wofür man so viel Geld ausgeben kann? 10 000 Dollar mindestens gehen an den Brautvater, wird mir erklärt. Der Rest geht für die Party drauf.

Auch das alltägliche Leben ist teuer in Kabul. Die unzähligen ausländischen Organisationen, die seit über zehn Jahren im Land sind, haben die Preise nach oben getrieben. Die Mieten haben sich vervielfacht, Bauland wird zu Wucherpreisen verkauft. Für Essen in einem Restaurant zahlt man mehr als in Deutschland. Vor Kurzem hat eine Bowlingbahn aufgemacht - inklusive Getränke ist man dort mehr als 100 Dollar an einem Abend los.

Auch die schlechte Infrastruktur kommt an manchen Stellen teuer zu stehen. Für ein W-LAN-Netz im eigenen Haus zahlt man zum Beispiel fast 1000 Dollar im Monat. Weil es keine Kabel gibt, läuft die Verbindung über Satellit. Günstiger ist Internet über den Handyvertrag, etwa 20 Dollar kostet das
monatlich. In Kabul haben fast alle ein Handy oder Smartphone, ständig haben sie ein Telefon am Ohr.

Von einem Amerikaner, der für die US-Regierung arbeitet, hören wir, wie groß der Hunger nach Kommunikation nach dem Ende der Taliban-Herrschaft war: Er war bei der Gründung des ersten und bis heute größten Handyanbieters dabei, 2003 war das. "Wir hatten mit 12 000 Nutzern in den ersten drei Monaten gerechnet. Es waren 12 000 in den ersten drei Tagen".

Tag zwei in Kabul

Wir fahren zu einer Fabrik etwas außerhalb von Kabul. Weil die Gegend als unsicher gilt, werde ich gebeten, das Kopftuch auch über Nase und Mund zu ziehen. Außerdem nehmen wir nicht den großen Pick-Up, sondern den kleineren Toyota. "Low profile", sagen die Expats. Lieber nicht auffallen.

Wir brausen also los und kommen deutlich besser voran als am Tag zuvor. Es ist Feiertag, der Geburtstag des Propheten Mohammed. Ob der Feiertag
am Montag oder Dienstag ist, war bis Sonntagabend unklar. Jedes Jahr fällt er auf einen anderen Tag, festgelegt wird das Datum von den Geistlichen. Und das offenbar recht kurzfristig.

Außerhalb des Stadtzentrums passieren wir den Viehmarkt, auf dem trotz des freien Tages Scharen von braunen Schafen und einige Ziegen zu sehen sind. Direkt vor unserer Kühlerhaube zerrt ein kleiner Junge ein Schaf am Rückenfell über die Straße. Neben dem Markt verläuft der Fluss Kabul, ein von bunten Plastiktüten und anderem Müll völlig verdrecktes Rinnsal.

Wir kommen nur langsam voran, vor uns umkurvt ein Öltanker die Schlaglöcher. Als endlich Platz zum Überholen ist, entdecken wir eine Münchner Telefonnummer auf der Fahrertür. Es soll auch eine Zeitlang ein "Erotikbus Hamburg" durch Kabul gefahren sein, wird mir erzählt. Doch man hat ihn jetzt schon länger nicht mehr gesehen.

In der Fabrik werden wir schon erwartet. Manche der Männer geben mir die Hand, andere fassen sich nur an die Brust und neigen kaum merklich den Kopf. Wir bekommen eine Führung über das mit hohen Mauern umgebene Gelände. Die Produktion steht gerade still. Warum? Winter! sagen die Afghanen und lachen, als ob die Frage ein Scherz gewesen wäre. In der Halle gibt es keine Heizung, tatsächlich ist es eisig kalt. Und der "richtige Winter" soll erst noch kommen - auch in Kabul.

Willkommen in Kabul

Den ersten Kontakt mit einer Afghanin habe ich im Flugzeug. Der Krankenservice des Flughafens hat ein Mädchen auf den Platz neben mir gehievt und ist sofort wieder verschwunden. Offenbar sind die Beine des Mädchens gelähmt und auch die Finger kann es nicht richtig bewegen. Die junge Afghanin spricht mich an und da ich nichts verstehe, schnalle ich mich ab und beuge mich zu ihr hinüber. Nach einigen Versuchen habe ich erraten, was sie will: ich soll sie hochheben, damit sie aufrecht sitzt. Die Frau vom Krankenservice hat sie halb liegend abgeladen. Bis zur Landung in Kabul werden wir ein gutes Team: ich flöße ihr Wasser ein und öffne die Nüsse-Packung, dafür lässt sie mich aus ihrem Fenster gucken und gibt so den atemberaubenden Blick auf die afghanischen Berge frei. Am Ende weiß ich, dass sie aus Kabul kommt. Und sie, dass ich Deutsche bin. Mehr erfahren wir nicht voneinander.

Am Flughafen Kabul werde ich vom Fahrservice abgeholt. Die Tür des riesigen Toyotas kriege ich kaum auf - sie ist gepanzert und daher unglaublich schwer. Der Wagen schlängelt sich durch die staubige Stadt, die Wolken hängen an diesem Vormittag tief. Die Fahrmanöver bescheren mir anfangs noch einige Nahtoderfahrungen, dann entspanne ich mich und beobachte die vorbeiziehenden Menschen. Männer ziehen mit Mandarinen, Orangen oder Nüssen beladene Handkarren hinter sich her, für die Jahreszeit bedenklich leicht angezogene Kinder spielen Fußball am Straßenrand und direkt an Verkaufsständen baumeln Fische.

Nach einer kurzen Verschnaufpause in der Unterkunft geht es weiter. Mittlerweile sind die Wolken abgezogen und rund um die Stadt wachsen riesige, schneebedeckte Berge in den Himmel. Auf einer Erhöhung ist der ehemalige Präsidentpalast zu sehen - durchsiebt mit unzähligen Einschusslöchern und halb verfallen. Doch wir halten an einem Tor in einer meterhohen, mit Stacheldraht bestückten Mauer: Kein Gefängnis, sondern der Zugang zur American University of Kabul, wo wir einen Termin haben. Ein Wächter schiebt die schwere Eisentür zur Seite, wir fahren ein. Dann geht ein weiterer Wächter mit einem am Stiel befestigten Spiegel um unser Auto und untersucht es so von unten, erst dann öffnet sich auch das zweite Tor und wird dürfen auf der Hochschulgelände.

Während des Termins kommt eine automatische Nachricht vom Sicherheitsservice per SMS: Anschlag auf der Jalalabad Road im Osten der Stadt. Zwei afghanische Polizisten sterben, 16 Menschen werden verletzt. Die Leute am Tisch - alle sind schon länger in Afghanistan - blicken kurz auf ihr Handy und zeigen keine Regung. Alltag. Willkommen in Kabul.

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