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Wie Potsdam mit dem Terror in Paris umgeht: Das Leben weiterleben

Nicht unterkriegen lassen. Keine Angst haben. Das ist der Appell vieler Potsdamer nach den Anschlägen der Terrormiliz IS in Paris.

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Die Trikolore hängt am Schaufenster vor dem kleinen Modegeschäft von Michèle Lingfeld im Holländischen Viertel. Daneben ein schwarzes Band. Trauerflor. Zum Gedenken an die fast 130 Menschen, die in der Nacht zum Samstag Opfer des Terrors in Paris geworden sind. Daneben steht, wie immer, das knapp einen Meter hohe Eiffelturm-Modell, das im Dunkeln bläulich leuchtet. Michèle Lingfeld stellt es täglich auf, als Reminiszenz an ihre Geburtsstadt Paris. Heute aber ist auch dieser Eiffelturm ein Zeichen der Trauer.

„Ich war in meiner Jugend oft im Bataclan auf Konzerten“, sagt Lingfeld. „Das war meine Jugend.“ Sie sei im elften Arrondissement aufgewachsen, habe dort auch heute noch viele Freunde und Verwandte. Es ist das Viertel, es ist der Musikclub, in dem am Freitagabend islamistische Terroristen Sprengsätze gezündet und wahllos das Feuer auf Passanten und Konzertbesucher eröffnet hatten. Sie stehe noch immer unter Schock, sei wie gelähmt, sagt Lingfeld. Ihre Freunde seien oft in den Cafés und Bars gewesen, die angegriffen worden sind. „Das war ihr Lebensmittelpunkt.“ Glücklicherweise sei niemand von ihnen zu Schaden gekommen. Doch sie mache sich große Sorgen, wie es nun weitergehe, was als nächstes komme.

Jakobs erinnert an de Verbindung Potsdams zu Frankreich

So ergeht es seit Freitagabend wohl vielen Potsdamern und vor allem den 182 Franzosen in der Landeshauptstadt. Der Angriff habe nicht allein in das Herz Frankreichs getroffen, sondern in das Herz Europas, sagte Potsdams Oberbürgermeister Jann Jakobs (SPD) am Sonntag bei seiner Rede zum Volkstrauertag. „Wir verurteilen diese abscheuliche Tat brutaler Extremisten.“ Die Verbundenheit Potsdams mit Frankreich und seinen Bürgern sei nicht allein der Europäischen Union geschuldet. Sie sei historisch gewachsen. So verdanke die Stadt den französischen Einwanderern eine „nicht zu missende kulturelle Bereicherung“. Die Zuwanderung habe Potsdam zu dem gemacht, was es heute sei. „Ein Volk, das trauern kann, über Grenzen hinweg.“

So prägte auch die Trauer die Reaktionen in Potsdam. In den Kirchen wurden am Samstag und Sonntag Kerzen für die Opfer angezündet. Die Veranstalter des „Vocalise“-Musikfestivals äußerten sich bestürzt. Es falle seit Freitag schwer, den Alltag fortzusetzen, schrieben sie im Internet. Wie geplant fanden die zwei Konzerte mit Werken französischer Komponisten in der Erlöser- und der Nikolaikirche am Samstag jedoch statt – dort wurde der Opfer gedacht. Unterdessen sagte eine japanische Schülergruppe ihre Reise nach Potsdam und Frankreich wegen der Anschläge ab. Die Schüler aus Kobe waren von der Partnerschule des Humboldt-Gymnasiums im französischen Lille eingeladen worden, sie sollten am heutigen Montag hier eintreffen. Jetzt ist die Reise auf nächstes Jahr vertagt.

Laurent Dubost von der fabrik will sich nicht verrückt machen lassen

Die Industrie- und Handelskammer Potsdam verurteilte die Anschläge von Paris. Als größtes Netzwerk von Unternehmern in Brandenburg trete man für eine weltoffene, partnerschaftliche und wertschätzende Gesellschaft ein, in der Terror, Angst oder Unmenschlichkeit keinen Platz haben dürften. „Tief betroffen“ reagierte das Ensemble des Hans Otto Theaters. Das Theater rief dazu auf, sich nicht von Terror, Hass und unberechenbarer Gewalt einschüchtern zu lassen.

Einen ähnlichen Ansatz hat Laurent Dubost vom Tanztheater fabrik, der aus Frankreich stammt. Man dürfe sich nicht verrückt machen lassen, sagte er. „Das war ein Anschlag auf den Alltag, auf die Lebensweise.“ Aber die Terroristen wollten, dass man Angst bekomme und sein Leben einschränke. Das dürfe nicht passieren. Große Sorgen macht er sich hingegen um die Zukunft. Er fürchte, Rechtsextreme in Frankreich und Deutschland würden versuchen, die Lage auszunutzen. Dabei sei es ja der Terror des sogenannten Islamischen Staates (IS), vor dem die Menschen nach Europa flüchteten.

Potsdamerin will zurück nach Paris

Diese Angst hat auch Michèle Lingfeld im Holländischen Viertel. Seit Monaten höre sie immer wieder rassistische Kommentare. Besonders um die vielen Flüchtlinge mache sie sich Sorgen. „Ich habe Angst, dass man jetzt alle dafür verantwortlich macht.“ Vor allem in Frankreich werde der Druck auf Migranten steigen. Viele hätten kleine Geschäfte, so wie sie. „Dabei haben sie und die Flüchtlinge gar nichts damit zu tun. Das wird hart für sie.“ Auf den Trauerflor an der Tricolore vor der Tür in der Mittelstraße habe sie im Übrigen bislang niemand angesprochen. Als wenn die Leute sich damit nicht auseinandersetzen wollten.

Die Potsdamerin Claudia Eggerth ist nicht verängstigt. Oder besser: Sie lässt sie nicht zu, die Angst. Im vergangenen Jahr ist die 37-Jährige aus Potsdam nach Paris gezogen. Sie wohnt im 17. Arrondissement, in der Nähe des Arc de Triomphe und der Champs Élysées. Am Freitagabend aber war sie nicht in Paris – sie besuchte Freunde in Potsdam, schaute gemeinsam mit ihnen das Fußballspiel, als der Terror ihre Wahlheimat brutal überfiel. „Ich habe sofort meine Freunde dort kontaktiert, es ist niemand betroffen, zum Glück.“ 

Flüchtlingsunterkünfte bereiten sich auf Gefahr durch Neonazis vor

Am morgigen Dienstag will Eggerth nach Paris zurückkehren – dem Terror zum Trotz. Freunde aus Deutschland hätten ihr zwar geraten, doch länger in Potsdam zu bleiben, doch das möchte die selbstständige Filmkritikerin nicht. „Ich sehe es nicht ein, mich einschränken zu lassen“, sagt sie. Jetzt befinde sich Paris wohl noch im Schockzustand, seien viele Menschen sehr verstört. „Es ist schon surreal, als wenn man selbst betroffen ist. Auch ich war schon zweimal zu Konzerten im Bataclan“, sagt sie. Dort also, wo die Terroristen Freitagnacht mehr als 80 Menschen erschossen. Trotzdem „werden wir weiter in Cafés gehen und zu Konzerten“, sagt Eggerth. „Die Pariser werden es sich nicht nehmen lassen, ihr Leben weiterzuleben.“ Das begreife sie auch als Aufgabe jener, die der Terror am 13. November nicht direkt getroffen habe: „Gerade wir, die nicht akut betroffen sind, müssen den anderen Mut machen, dass man halt lebt.“ Es müsse weitergehen – dem Terror zum Trotz.

Dass das möglich ist, möglich sein muss, hat Claudia Eggerth in Paris schon einmal erlebt: Anfang des Jahres, nach dem Terroranschlägen auf die Redaktion des Satire-Magazins „Charlie Hebdo“ und einen jüdischen Supermarkt. „Ich hatte noch nie Angst in Paris“, sagt Eggerth. „Wenn ich in Berlin nachts mit der U-Bahn fahre, ist das anders.“

In Potsdam bereitet man sich indes auf eine mögliche größere Gefährdung der Flüchtlinge durch rechtsextreme Täter vor. Am heutigen Montag soll es dazu ein Treffen geben, sagte die Betriebsleiterin beim Internationalen Bund (IB), Carol Wiener. Der IB betreut mehrere Unterkünfte in Potsdam. Auch sei die Zahl der Sicherheitsleute bereits leicht aufgestockt worden. So gibt es seit Samstag eine neue Rufbereitschaft.

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