Interview zum Ersten Weltkrieg: „Das niedrige Niveau der großen Geister“
Der Historiker Ernst Piper über die Begeisterung der deutschen Intellektuellen für den Ersten Weltkrieg, den Wandel von Thomas Mann und wachsenden Antisemitismus
Stand:
Herr Piper, Sie beginnen Ihre 600-seitige Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs mit dem Schicksal des österreichischen Dichters Georg Trakl. Inwiefern erschien Ihnen das symptomatisch?
Georg Trakl versah seinen Militärdienst in einem Feldlazarett in Grodek, dem heutigen ukrainischen Horodok. Wenn man vom Ersten Weltkrieg spricht, denken immer alle an die Westfront. Angefangen hat dieser Krieg aber an der Ostfront, mit dem österreichischen Angriff auf Serbien, einer grandiosen Fehlspekulation. Die Österreicher wollten Serbien schnell besiegen und setzten dafür erhebliche Truppenverbände ein. Dadurch wurde die Ostfront derart geschwächt, dass die Russen enorme Geländegewinne erzielen konnten und der größte Teil Galiziens erst einmal verloren ging.
Ernst Piper
(61), geboren 1952 in München. Studium der Geschichte, Philosophie und Germanistik in München und Berlin. Seit 1982 als Verleger, Literaturagent und Buchautor tätig seit 2006 Privatdozent für Neuere Geschichte an der Universität Potsdam. Er hat zahlreiche zeitgeschichtliche Bücher veröffentlicht, zuletzt „Nacht über Europa“ »Nationalsozialismus. Seine Geschichte von 1919 bis heute« (2012). Ernst Piper lebt in Berlin.
Trakl starb an am 3. November 1914 an einer Überdosis Kokain. Sie sehen ihn als Opfer des Krieges.
Nach einem Selbstmordversuch war er in die Kriegspsychiatrie in Krakau eingewiesen worden. Die Verantwortung für die vielen Schwerverletzten hatte ihn nervlich zerrüttet, der Selbstmord eines Soldaten, der die Schmerzen nicht mehr ertrug, gab ihm den Rest. Wir wissen nicht, ob er in Krakau absichtlich oder versehentlich eine Überdosis nahm. Aber sein Selbstmordversuch angesichts der Schrecknisse des Krieges ist ein starkes Indiz dafür, dass man ihn zu den Kriegsopfern zählen kann.
Bereits 1913 hatte Trakl in seinen expressionistischen Gedichten geradezu seherische Vorahnungen formuliert.
Wie so viele in seiner Zeit. Bei Trakl ist das sehr deutlich. Hier findet sich das Überbordende, Ekstatische des Expressionismus wieder, aber auch ein starker apokalyptischer Grundton, die Verzweiflung am Leben. Das wird durch das Kriegserlebnis dann noch gesteigert.
Sie stellen die Menschen der damaligen Zeit in den Mittelpunkt Ihrer Betrachtungen. Wie sah das bei Kriegsausbruch aus in Deutschland, herrschte tatsächlich allenthalben Begeisterung?
Das war lange Zeit unser Bild vom Kriegsausbruch, aber es waren keineswegs alle begeistert. In erster Linie war das ein Phänomen der städtischen Mittelschichten, während zum Beispiel die Arbeiterschaft bis zur letzten Minute gegen den Krieg demonstrierte. Auch in der Landbevölkerung überwogen Angst und Beklommenheit. Die allgemeine Begeisterung war gewissermaßen das regierungsamtliche Narrativ. Viele sind in diesen Krieg gezogen, weil sie glaubten, was man ihnen erzählte, nämlich dass sie im August über den Champs-Élysées flanieren und an Weihnachten wieder zu Hause sein würden.
Sie sprechen von einer geistigen Mobilmachung. Auch Künstler, Wissenschaftler, Intellektuelle machte dieser Krieg zu Kombattanten.
Tatsächlich war es erst einmal normal, sich zum Kriegsdienst zu melden. Die freiwillige Meldung hatte zudem den Vorteil, dass man einen Einfluss darauf hatte, in welcher Einheit man eingesetzt wurde. So konnten viele, zum Beispiel Schulabgänger, gemeinsam mit Freunden zum Fronteinsatz fahren. Das war dann zum Zweiten Weltkrieg ganz anders. Inzwischen war klar, dass der moderne Krieg eine mörderische Angelegenheit totalitären Ausmaßes war. Viele Prominente versuchten, dem Kriegsdienst zu entgehen. Deshalb war der Blutzoll des Ersten Weltkrieges unter Künstlern und Intellektuellen viel höher als im Zweiten Weltkrieg und in Deutschland übrigens größer als in anderen Ländern. Das deutet darauf hin, dass die Euphorie in diesen Kreisen anfangs in Deutschland besonders ausgeprägt war.
Auch Thomas Mann sprach für den Krieg.
Ja, er war ganz begeistert vom Krieg, nahm aber nicht daran teil, sondern bewunderte ihn aus der Ferne. Gleichzeitig verfiel er in eine profunde literarische Schaffenskrise, die bis 1918 dauerte. Ich finde es aber bemerkenswert, dass Thomas Mann an diesem Punkt nicht stehen geblieben ist. Er hat sich mit großer Intensität und auch ohne Schonung der eigenen Person mit diesen Dingen auseinandergesetzt und seine Positionen weiterentwickelt. 1922 kam es zur Versöhnung mit dem Bruder Heinrich und in der Weimarer Republik war er ein entschiedener Verfechter des demokratischen Systems.
Auch andere Intellektuelle tönten mit.
Überrascht hat mich, auf welch niedriges Niveau sich auch große Geister wie etwa Gerhard Hauptmann plötzlich begaben. Aber wenn man genau hinschaut, dann findet man auch viele, die in diesen patriotischen Chor nicht einstimmten. Manche waren sofort gegen den Krieg, manche nach den ersten militärischen Misserfolgen und nicht wenige kamen desillusioniert von der Front zurück.
Unsere Wahrnehmung war lange Zeit vom Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust dominiert. Es ist kaum bekannt, dass auch der Erste Weltkrieg Europas Juden in Schwierigkeiten brachte.
Nun, die sogenannte Judenzählung, die das preußische Kriegsministerium durchführen ließ, ist schon bekannt. Aber die Situation der jüdischen Minderheiten im Ersten Weltkrieg war generell schwierig. Sie bewegten sich in einem Spannungsverhältnis zwischen nationaler Loyalität und der Zugehörigkeit zum Judentum. Die größte jüdische Gemeinde Europas, die polnische, war auf drei Länder aufgeteilt, die gegeneinander Krieg führten: Österreich-Ungarn, das Deutsche Reich und Russland. Der Publizist Aron Schwertfinger schrieb damals: „Die Juden genießen den Vorzug, für alle Völker zu sterben.“
Und in Deutschland?
Der Erste Weltkrieg hatte für den deutsch-jüdischen Dissimilationsprozess eine entscheidende Bedeutung. Zwar waren in der Weimarer Republik die Juden nicht nur de jure, sondern auch de facto gleichberechtigt. Rathenau konnte Außenminister werden, aber es hat keine drei Monate gedauert, bis er ermordet wurde. Der eliminatorische Antisemitismus hatte schon damals offen gewalttätige Züge angenommen.
Obwohl viele deutsche Juden als Patrioten aus dem Krieg mit dem Eisernen Kreuz zurückgekehrt waren.
Das hat ihnen nach 1933 einen gewissen Schutz eingebracht, aber nur solange Hindenburg noch Reichspräsident war, der die jüdischen Kriegsteilnehmer von den antijüdischen Gesetzen ausgenommen sehen wollte. Doch als er 1934 starb, war es damit vorbei. Die Orden, die sich manche Juden bei der Einlieferung ins KZ ans Revers hefteten, machten bei den SS-Leuten keinen Eindruck, eher im Gegenteil.
In der „Zeit“ bezeichnete Ludger Heid unlängst das Besatzungsregime in Ober Ost – heute das Baltikum – im Ersten Weltkrieg als Vorspiel zum Holocaust.
So weit würde ich nicht gehen. Die Deutschen fühlten sich zwar überlegen, dazu berufen, sich diese Gebiete anzueignen. Aber es gab im Besatzungsregime Ober Ost keine Vernichtungsfantasien. Es spielten im Gegenteil nicht wenige Juden, wie etwa Hermann Struck, eine wichtige Rolle. Die Alldeutschen dagegen propagierten die Idee, dass diese Gebiete ohne die einheimische Bevölkerung auf das Deutsche Reich übergehen sollten. Diese Leute, etwa Heinrich Claß, kann man durchaus als Vorläufer des Holocaust betrachten.
Sie haben sich vor allem für die Ideengeschichte interessiert, wie es überhaupt so weit kommen konnte. Ihr Ergebnis?
Zum einen muss man sich klar machen, dass Krieg damals – im Gegensatz zu heute – etwas sehr Normales war. Im Vorfeld des Ersten Weltkrieges gab es eine Vielzahl an militärischen Konflikten in Europa und auch außerhalb. Krieg galt als legitimes Mittel, um politische Ziele durchzusetzen. Die Deutschen hatten in den vorausgehenden 100 Jahren alle Kriege gewonnen. Gleichzeitig gab es eine große Fraktion, die bemängelte, dass das Deutsche Reich als Parvenü unter den Großmächten beim Wettlauf um Afrika zu kurz gekommen sei. Es gab das Ideologem des „Volks ohne Raum“. Deutschland brauche Lebensraum im Osten, auf den es auch deshalb einen legitimen Anspruch habe, weil man diese Gebiete jahrhundertelang kultiviert habe.
Wer die Schuld am Ausbruch des Krieges trägt, wird aktuell wieder diskutiert.
Ich finde die wieder aufgeflammte Debatte über die Schuldfrage wenig erkenntnisfördernd. Die Frage hat immer noch eine gewisse Virulenz in Deutschland. Man weiß, dass Deutschland die Schuld am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs trägt, und viele haben das Gefühl, irgendwie auch am Ausbruch des Ersten. Deswegen werden die Thesen von der Mitschuld der anderen von Christopher Clark derzeit gerne aufgenommen. Ich denke, die meisten Historiker sind sich einig, dass alle kriegführenden Parteien eine gewisse Mitschuld hatten, die einen etwas mehr, die anderen etwas weniger. Aber der Versuch, die Relationen exakt zu bestimmen, bringt uns nicht wirklich weiter.
Für Deutschland entwickelte sich die Niederlage nach dem Krieg zum nationalen Debakel.
Es ist den Deutschen nicht gelungen, mit dieser Niederlage produktiv umzugehen, ein positives Narrativ zu entwickeln, so wie die Franzosen das nach 1871 geschafft haben. Die Weimarer Republik war als Regime der „Novemberverbrecher“ von Anfang an in der Defensive. Adolf Hitler hat sich überaus geschickt als Stimme des Millionenheeres der Weltkriegssoldaten und der Hinterbliebenen ihrer gefallenen Kameraden inszeniert. Er war angetreten, dem Sterben von zwei Millionen deutschen Soldaten im Ersten Weltkrieg nachträglich einen Sinn zu verleihen, indem er versprach, das geschlagene Deutsche Reich wieder zu nationaler Größe aufzurichten. Das vor allem erklärt die Wirkungsmacht seiner Bewegung.
Wer bediente die Reden von der Schmach vom verlorenen Krieg?
Vor allem Hindenburg und Ludendorff missbrauchten ihr großes Ansehen als Kriegshelden, um der Legende vom Dolchstoß in den Rücken des deutschen Heeres Glaubwürdigkeit zu verleihen. Sie brachten es nicht fertig, die militärische Niederlage einzugestehen.
100 Jahre danach haben die Deutschen aber nun ihren Frieden mit diesem Krieg gemacht?
So ganz genau wissen wir das noch nicht. Wir gehen zwar sehr viel entspannter mit dem Ereignis um. Ich sehe aber nach wie vor erhebliche Defizite im erinnerungspolitischen Umgang mit diesem Krieg. In Deutschland fehlt ein zentraler Gedenkort. In London gibt es das „Imperial War Museum“, das schon 1917 gegründet wurde, in Frankreich das „Historial de la Grande Guerre“ in Péronne, etwas Vergleichbares fehlt in Deutschland. Das einzige große Museum zu diesem Thema, das Bayerische Armeemuseum in Ingolstadt, kennen die meisten Deutschen gar nicht, nicht einmal alle Historiker. Wir haben auch kein Grabmal des unbekannten Soldaten wie England, Frankreich oder Italien. Die zwei Millionen Kriegstoten bilden eine Leerstelle in der Mitte der deutschen Gesellschaft.
Das Gespräch führte Jan Kixmüller
HINTERGRUND
„Nacht über Europa“ ist der Titel des Buches (Propyläen Verlag, 592 Seiten, 26,99 Euro), in dem Ernst Piper eine Kulturgeschichte des Ersten Weltkrieges entwirft. Dieser erste totale Krieg habe nichts und niemanden geschont, alle Bürger der beteiligten Staaten, auch Künstler, Wissenschaftler und Intellektuelle, wurden zu Kombattanten, so Pipers These. Der Historiker hat sich intensiv mit den kulturgeschichtlichen Aspekten dieses Weltkrieges befasst und entfaltet ein großes geistiges Panorama dieser Zeit. Piper beschreibt die geistige Mobilmachung der Nationen, die Entwicklung des totalen Krieges, die Spaltung der Arbeiterbewegung, die Not der jüdischen Minderheiten und das unheilvolle Fortwirken des Krieges in Deutschland nach der Niederlage von 1918. Piper stellt die politischen, geistigen und künstlerischen Akteure als Seismografen der tiefgreifenden Veränderungen vor. (PNN)
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