Von Fabian Löhe: Das Wende-Gedächtnis
Die DDR-Sendungen im Deutschen Rundfunkarchiv sind im 20. Jahr des Mauerfalls gefragter denn je
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Die wertvollen Film-Schätze des Deutschen Rundfunkarchivs (DRA) liegen in Babelsberg hinter dicken Metalltüren im Keller des Gebäudes. Auf Minus vier Grad Celsius sind die alten Filmrollen eingefroren. Um mit ihnen arbeiten zu können, müssen die Archivare sie in einem Auftauschrank langsam auf Raumtemperatur bringen. Im Stockwerk darüber fährt eine Mitarbeiterin die Klebestellen der Filme mit Reinigungsalkohol ab. In weiteren Räumen sind die Sendemanuskripte in Dutzenden von Fahrregalanlagen archiviert. Es riecht nach alter Pappe. Hier liegt alles, was die DDR gesendet hat, soweit es noch erhalten ist.
Vor dem 20. Jahrestag des Mauerfalls am 9. November herrscht Hochbetrieb zwischen den insgesamt 265.000 Fernsehaufzeichnungen, 500.000 Tonbändern, 5,5 Kilometern Akten, 3,5 Millionen Fotos und 5 Millionen Zeitungsausschnitten. „Uns allen schwirrt der Kopf: Diese Jahr hatten wir eine enorme Nutzung unserer Bestände,“ sagt der Leiter des DRA Babelsberg, Peter-Paul Schneider. Seine 60 Mitarbeiter mussten nicht nur zum Mauerfall recherchieren, hinzu kamen und noch Anfragen zu „60 Jahre Deutschland“ und „50 Jahre Sandmännchen“.
„Die private Nutzung musste oft zurückstehen, weil wir ARD und ZDF zu beliefern hatten“, sagt Schneider. Private Anfragen kommen vor allem über das Internet-Angebot „Wende-Zeiten“ (www.dra.de), auf das es seit dem Start Anfang des Jahres bereits mehr als 1,3 Millionen Zugriffe gab. Insgesamt kommen die Anfragen zur Hälfte aus öffentlich-rechtlichen Anstalten, ein Viertel kommt aus dem Bereich Wissenschaft, Kultur und Medien, ein weiteres Viertel für eine privaten oder kommerzielle Nutzung.
Am meisten gefragt sind nach wie vor Ausschnitte der Pressekonferenz von Günter Schabowski, der am Abend des 9. November 1989 darüber informierte, dass DDR-Bürger ohne weitere Voraussetzungen ausreisen dürften. Auf die Nachfrage der Journalisten, ab wann das gelte, antwortete er: „Das tritt nach meiner Kenntnis ist das sofort, unverzüglich.“ Seine Worte lösten einen Ansturm auf die Grenzübergangsstellen aus und schrieben Weltgeschichte. Auch den berüchtigten Satz des DDR-Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht vom 15. Juni 1961 wollen viele offenbar immer wieder hören: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.“ Zwei Monate später begann der Bau der Grenzanlagen.
Viel Material zur Mauer gibt es beim DRA in Babelsberg jedoch nicht. Schließlich verfügt das Archiv nur über Aufnahmen aus dem DDR-Fernsehen, die westdeutschen Dokumente lagern bei den einzelnen ARD-Anstalten. Am anderen Standort des DRA in Frankfurt sind nur Tondokumente aus der Zeit vor 1945 gelagert. Das DDR-Fernsehen sendete keine Berichte über den letzten Mauertoten Chris Gueffroy im Februar 1989. „Stattdessen hieß es noch am 9. Oktober 1989 in der ''Aktuellen Kamera'' über die Protestierer bei den Montagsdemonstrationen, sie seien Randalierer, die keine Chance hätten“, beschreibt Schneider die Wahrnehmung des DDR-Fernsehens.
Der aus dem grenznahen Hünfeld bei Fulda stammende promovierte Germanist bezeichnet das DRA Babelsberg scherzhaft als „den großen Gewinner des Kalten Krieges“. Denn Ost und West schnitten über Jahrzehnte gegenseitig mit, was sie in der ideologischen Auseinandersetzung beim jeweils anderen für wichtig erachteten. „Vom ''Schwarzen Kanal'' beispielsweise haben wir sehr viele West-Mitschnitte“, sagt Schneider. Er betont die Bedeutung des DRA für das Verständnis der DDR. Nur dank archivarischer Aufnahmen könne man feststellen, welche Themen die DDR tabuisierte: „Alkoholismus durfte zunächst allenfalls im ''Polizeiruf'' thematisiert werden, und Sexualdelikte oder Kindesmissbrauch durfte es schon aus Gründen staatlicher Ideologie eigentlich nicht geben.“ Auch für die Alltagsgeschichte vieler Ostdeutscher wird das DRA immer wichtiger. Da es in der DDR kaum Videorekorder gab, wenden sie sich immer häufiger an das Archiv, um an Aufnahmen zu gelangen, die mit ihrer persönlichen Vergangenheit verwoben sind. 30 Minuten Film kosten 36 Euro. Mal kommen Anfragen, weil jemand in der Sendung ''Außenseiter, Spitzenreiter'' mitgemacht hat oder in der Kindersport-Sendung ''Mach mit, Mach''s nach, Mach''s besser''. Viele fragen auch nach Aufzeichnungen von Liedern, die damals im DDR-Radio liefen. „Wir werden künftig eine noch größere Bedeutung auch für die Mentalitätsgeschichte erlangen“, glaubt Schneider und fügt hinzu: „Schließlich bewahren wir hier einen Teil des kulturellen Gedächtnisses dieser Nation.“
Fabian Löhe
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