
© privat
Nach dem Attentat: „Der 22. Juli ist unser 11. September“
Der Norweger Haakon Gunnerud studiert in Potsdam und Berlin. Eine Woche nach den Anschlägen in seiner Heimat berichtet er, wie er die Zeit kurz nach den Gewalttaten in Oslo und Utøya erlebte
Stand:
Eine Woche ist seit den Anschlägen in Norwegen vergangen. 77 Menschen kamen dabei ums Leben, acht von ihnen, als im Regierungsviertel von Oslo eine Bombe explodiert, 69 vor allem junge Norweger erschießt der Attentäter Anders Behring Breivik auf der Insel Utøya.
Die Anschläge haben die Norweger tief getroffen, auch jene, die sich im Ausland aufhalten – wie Haakon Gunnerud: Der 25-jährige Student stammt aus Røyken, ein Ort, der etwa 20 Kilometer von Oslo entfernt liegt. Vier Jahre hat Gunnerud in Oslo gelebt, seit 2009 studiert er Internationale Beziehungen in Potsdam und Berlin. Als am Freitag vergangener Woche die Anschläge geschahen, arbeitete er gerade an seiner Masterarbeit: „Ich saß am Freitagnachmittag am Computer. Etwa Viertel vor vier, also kurz nach dem Bombenanschlag, habe ich in ein paar norwegische Internetzeitungen geschaut, einfach um normale Nachrichten zu lesen.“ Bei „Verdens Gang“ stößt er plötzlich auf einen Artikel über die Explosion. „Meine erste Reaktion war: Das kann nicht sein. Ist da jemand in die Internet-Seite eingedrungen und hat einen falschen Artikel gepostet?“ Doch als Gunnerud seine Freunde bei Facebook kontaktiert und im Internet immer mehr Berichte über den Anschlag findet, erkennt er, „dass es was sehr Ernstes ist“. Eine Stunde später erreicht ihn die Nachricht von Schüssen auf Utøya.
Vom Ausmaß der Anschläge erfährt Gunnerud erst in den Tagen danach: „Es hat lange gedauert, bevor man richtig glauben konnte, dass es passiert ist. Am Freitag konnte ich nicht klar denken, und am Samstagvormittag habe ich einen Schock bekommen, als die Anzahl der Opfer so krass gestiegen ist. Bis Montagabend habe ich fast nichts anderes gemacht als norwegische TV-Sendungen im Internet zu schauen und Artikel zu lesen. Sich auf andere Sachen zu konzentrieren war schwierig.“ Gunnerud telefonierte mit seiner Familie und rief auch einen guten Freund an, dessen Freundin im Osloer Justizministerium arbeitet: „Die beiden wollten sich eigentlich um 15.30 Uhr auf dem Platz vor dem Ministerium treffen, haben den Termin aber ein bisschen verschoben. Die Bombe ist um 15.26 Uhr explodiert.“ Auch einige der Überlebenden des Anschlags auf Utøya kennt Gunnerud. Mit solchen Taten in seiner Heimat hätte er nie gerechnet: „Ich hätte nie gedacht, dass ein Norweger sowas machen könnte.“
Von Panikreaktionen hält er aber nichts: „Wie der Ministerpräsident und viele andere schon gesagt haben: Die Antwort ist mehr Demokratie und den Glauben an eine offene Gesellschaft zu behalten.“ Genau nach dieser Prämisse will Gunnerud sich verhalten, er wirkt sehr besonnen. Die politischen Reaktionen in seiner Heimat beobachtet er intensiv. „Der Wahlkampf (für die Lokalwahl im September, Anm. d. Red.) wird sehr von den Attentaten geprägt sein, aber man muss trotzdem in der Lage sein, politisch wichtige Sachen zu diskutieren“, sagt Gunnerud. Um eine offene Gesellschaft zu bewahren, müssten man Menschen auch erlauben, sich zum Beispiel kritisch über norwegische Immigrationsregeln zu äußern, ohne dass diese als „Breivik-Fans“ bezeichnet werden, findet der Student. Viele Kommentatoren waren zuerst von islamistischen Anschlägen ausgegangen. „Für die norwegische Gesellschaft ist es gut, dass es keine Islamisten waren. Sonst würden bald viele Immigranten ein angsterfülltes Leben haben“, sagt Gunnerud. „Der 22. Juli ist unser 11. September, aber die Konsequenzen für die norwegische Gesellschaft werden hoffentlich ganz anders sein als in den USA.“
In etwa einer Woche will Haakon Gunnerud nach Hause fliegen und auch Oslo besuchen. „Es wird bestimmt sehr merkwürdig, das Regierungsviertel zu sehen, aber auch gut, dass ich es dann mit eigenen Augen sehen kann.“ Erste Veränderungen in seiner Heimat könne er aus der Ferne aber bereits erkennen: „Alle Parteien haben vergangene Woche viele neue Mitglieder bekommen, und viele werden sich mehr politisch engagieren.“
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: