Landeshauptstadt: Der lange Weg zur Schrift
Viele Potsdamer können nicht ausreichend lesen und schreiben. In Kursen der Volkshochschule „Albert Einstein“ finden Erwachsene Hilfe
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Liane Müller* geht jeden Tag zur Arbeit, hat einen Schulabschluss und eine Berufsausbildung. Und dennoch kann die 40-Jährige nicht richtig lesen und schreiben. Einfache Wörter und Sätze machen ihr kaum Probleme. Doch zusammenhängende Texte zu lesen und zu schreiben stellt für Liane Müller eine schier unüberwindliche Hürde dar. „Ich habe es einfach nie richtig gelernt“, sagt die junge Frau.
Funktionaler Analphabetismus – so heißt der Fachbegriff für dieses Problem, mit dem Liane Müller nicht alleine dasteht. Im Jahr 2011 zeigte die „leo. – Level-One-Studie“ erschreckende Ergebnisse: Etwa 7,5 Millionen Menschen in Deutschland, mehr als 14 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung, können nur unzureichend lesen und schreiben. In Potsdam sind etwa 14 000 Menschen betroffen. Die meisten von ihnen – 57 Prozent – sind wie Liane Müller berufstätig, 80 Prozent haben einen Schulabschluss.
Die Ergebnisse der leo-Studie seien medial jedoch kaum aufgegriffen worden, sagt Roland Bellinghausen vom Deutschen Volkshochschul-Verband (DVV). „Nach dem PISA-Schock ist der Alpha-Schock ausgeblieben.“ Auf politischer Ebene hat sich dennoch etwas getan. Im Jahr 2012 wurde die nationale Strategie für die Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener ins Leben gerufen. In 60 Projekten fördert das Bundesministerium für Bildung und Forschung Maßnahmen, die die Anzahl der funktionalen Analphabeten in Deutschland senken sollen. Zu ihnen zählt das jüngst begonnene Projekt „AlphaKommunal – Kommunale Strategie für Grundbildung“ des DVV. „Unser Ziel ist es, das Thema zu enttabuisieren und die Betroffenen besser zu erreichen“, sagt Projektleiter Bellinghausen.
An drei Modellstandorten – Uelzen, Kaiserslautern und Potsdam – werden in den kommenden zweieinhalb Jahren Grundbildungsangebote erarbeitet und vor allem Mitarbeiter der Kommunen in Rathäusern, Jobcentern, Kitas und Bürgerbüros darin geschult, funktionalen Analphabetismus zu erkennen und die Betroffenen auf Hilfsangebote aufmerksam zu machen.
Gerade diejenigen, die täglich Kontakt zu vielen Menschen haben und als Ansprechpartner und Vertrauenspersonen gelten, seien wichtige Partner, betont Projektleiter Bellinghausen. Nach Ablauf der Modellphase sollen die Erfahrungen und Ergebnisse des Projekts bundesweit angewendet werden.
Wie wichtig aufmerksame Ansprechpartner sind, die die Betroffenen aktiv unterstützen, zeigt auch die Geschichte von Liane Müller. „Ich versuche meistens es zu verheimlichen“, sagt sie. Bei Behördengängen bittet sie stets Freunde, sie zu begleiten, im Restaurant bestellt sie die schwierig zu lesenden Gerichte mit Nummern, muss sie doch einmal ein Formular ausfüllen, bittet sie jemand anderen – „Du kannst das schneller als ich“. Ist sie unterwegs, beobachtet sie, wie die anderen Menschen sich verhalten und passt sich an. Doch irgendwann war der Punkt erreicht, an dem es so nicht mehr weiterging. Ihr Glück war ein sensibler Arbeitskollege, dem sich Liane Müller schließlich anvertraute. Der Kollege half ihr, ein für sie passendes Bildungsangebot zu finden.
Zweimal in der Woche sitzt Liane Müller nun mit anderen erwachsenen Schülern im Kurs „Lesen – schreiben – miteinander reden“ der Volkshochschule Potsdam. Die Teilnahme ist kostenlos und wird im Rahmen des Projekts „AlphaKommunal“ vom Bundesbildungsministerium finanziert.
An diesem Nachmittag liegen kleine Kärtchen mit einer Bildergeschichte vor den Kursteilnehmern auf dem Tisch. Kursleiterin Katrin Wartenberg bittet Liane Müller, die Geschichte zu ordnen und zu erzählen. Anschließend schreibt sie das Erzählte auf. Behutsam korrigiert Katrin Wartenberg das Geschriebene, macht auf Fehler im Satzbau aufmerksam, ergänzt Satzzeichen, korrigiert die Rechtschreibung. Tag für Tag erarbeiten sich die Kursteilnehmer einen Wortschatz, lernen Sätze zu formulieren und Texte zu verstehen.
Seit zwei Jahren arbeitet Katrin Wartenberg mit funktionalen Analphabeten zusammen. „Es gibt immer ein Gemisch von Ursachen“, erklärt die Kursleiterin, die im Projekt „AlphaKommunal“ als Grundbildungsbeauftragte tätig ist. Oft seien die familiären Bedingungen nicht optimal gewesen, Schwierigkeiten in der Schule oder Krankheiten zählten ebenfalls häufig zu den Gründen für funktionalen Analphabetismus. Ein geordnetes Elternhaus, engagierte Lehrer, eine gute Schule – bei der Arbeit werde ihr immer wieder bewusst, welches Glück sie selbst hatte und dass dies nicht für alle Menschen selbstverständlich sei.
„Der psychische Druck ist für die Betroffenen sehr hoch“, weiß Katrin Wartenberg. Als dumm abgestempelt zu werden – dies sei oft die größte Angst der von Analphabetismus Betroffenen. Auch für Liane Müller ist der Leidensdruck immer sehr hoch gewesen. „Das Selbstbewusstsein ist angeknackst“, sagt sie.
Manchmal ziehe sie sich zurück und meide soziale Kontakte. Derzeit arbeitet sie als Reinigungskraft, möchte aber in ihren gelernten Beruf als Beiköchin zurückfinden. Noch scheut sie sich davor, eine Bewerbung zu schreiben, neue Kollegen und ein neues Umfeld kennenzulernen. Neben dem Wunsch nach beruflicher Veränderung spornt sie auch ein privates Ziel an: „Ich möchte meinem Patenkind Bücher vorlesen.“ Mit einfachen Kinderbüchern geht das mit der Dreijährigen schon ganz gut. „Manchmal setze ich mich vorher hin und übe die Geschichte schon ein bisschen.“
*Name geändert
Zum Angebot der Volkshochschule Potsdam : www.vhs-potsdam.de. Ansprechpartnerin ist Katrin Wartenberg, die telefonisch unter (0331) 281 295 761 zu erreichen ist.
Heike Kampe
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