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Landeshauptstadt: Der Rabbi aus dem Plattenbau

Nachum Presman zog aus Israel nach Potsdam, um den brandenburgischen Juden das Jüdischsein zu lehren

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Der Rabbi ist in Eile. In einer halben Stunde muss er eine Leiche waschen. Die Toten zu waschen, gehört zur Arbeit des Potsdamer Rabbis Nachum Presman. Nicht, weil das unbedingt die Aufgabe eines Rabbiners ist, sondern weil niemand anderes weiß, wie es geht. „Es gibt dafür ja ein bestimmtes Ritual“, sagt er zwei Tage später in seiner Potsdamer Wohnung. In Presmans Heimat Israel kennen das viele. Aber in den sehr jungen jüdischen Gemeinden Brandenburgs ist das anders: „Bei uns bin ich der einzige religiösische Mensch – mach“ ich also alles.“

Das tut er auch freitags in der Synagoge. Normalerweise beten Männer aus der Gemeinde vor, in Potsdam leitet Rabbi Presman den Gottestdienst allein. Dabei „muss der Rabbiner eigentlich nur auf seinem Platz sitzen und Rabbiner sein“. Damit das vielleicht auch einmal in der Landeshauptstadt so wird, gibt Rabbi Presman den brandenburgischen Juden Religionsunterricht und Hebräisch-Stunden.

Rund 1000 Juden leben heute in der Stadt, insgesamt 2000 im Land Brandenburg. Es gibt acht Gemeinden und nur einen Rabbiner – Nachum Presman. Die zwölf liberalen Rabbiner, die gerade am Potsdamer Abraham-Geiger-Kolleg ausgebildet werden, zählen ja nicht. Sie halten sich nicht an jedes Gebot und behaupten auch noch, das wäre richtig so.

Presman ist darüber empört. Er sitzt in seinem Wohnzimmer am riesigen Esstisch und fuchtelt mit dem Zeigefinger in der Luft: „Es gibt nur einen jüdischen Weg!“ Mit den Liberalen hat der Orthodoxe „große Probleme“. Er will mit ihnen nicht einmal im Synagogen-Bauverein zusammenarbeiten, der Spenden für ein neues Gotteshaus sammelt. Er ist darum ausgetreten, obwohl er den provisorischen Gebetsraum im Plattenbau in der Schlossstraße 1 gern gegen eine richtige Synagoge eintauschen würde.

Nur zwei gebürtige Potsdamer Juden waren nach der Nazizeit in ihre Heimat zurückgekehrt. Erst die jüdischen Flüchtlinge, die nach der Wende aus der Sowjetunion kamen, gründeten 1991 wieder eine Gemeinde. Dass seine Neu-Potsdamer Glaubensbrüder und -schwestern zum Wodka schon mal Speck essen, obwohl das unkoschere Schweinefleisch für Juden verboten ist, findet der Rabbi jedoch in Ordnung. „Sie wissen, sie machen falsch“, erklärt er, „aber sie sagen: Wir sind noch nicht so weit, wir sind anders erzogen.“ Sie so weit zu bringen, ist die Aufgabe von Rabbi Presman, der Grund, weshalb er hier ist. Presman ist ein Schaliach, ein Gesandter, der die Juden zurück zum Judentum holen will.

Darum hat Rabbi Presman wenig Zeit. Nicht einmal zum Lesen. Obwohl in dem schwarzen Ikea-Regal in seinem Wohnzimmer 600 Bücher stehen – rote, braune, grüne Lederbände mit goldenen hebräischen Buchstaben – religiöse Schriften. „Die Bücher sind nicht zum Lesen, die Bücher sind zum Lernen“, sagt Presman. Jeden Tag mindestens eine halbe Stunde widmet er ihnen. Und falls er doch einmal Zeit findet, dann für „religiöse Journale aus Israel“. Er würde ja gerne eine Tageszeitung lesen, aber dafür ist sein Deutsch zu schlecht, sagt er, selbst nach zehn Jahren. Naja, auch zum Sprachunterricht fehlt die Zeit.

Doch Rabbi Presman ist kein hektischer, gehetzter Mann. Er besitzt alles, was die Klischees von Ruhe und Gemütlichkeit erfüllt: einen dicken Bauch, ein rundes Gesicht, aus dem rot gelocktes Barthaar wuchert wie zu lang geratener Flaum. Er spricht langsam, mixt sein angestrengtes Deutsch mit heiterem Jiddisch, das er von daheim kennt und vom Rabbinerseminar in New York, wo er drei Jahre studierte. Und seine Bewegungen haben etwas Bedächtiges – wenn er sich nicht gerade über die Liberalen ärgert.

Am liebsten wäre Nachum Presman in Israel geblieben, wo Rabbis ein gesichertes Auskommen haben und ein bequemeres Leben. Doch dann erzählte ihm ein Freund, dass die deutsche Gemeinde in Brandenburg einen Rabbi sucht. Und weil es als Schaliach seine Pflicht ist, ging Nachum Presman. 1996 zog er mit seiner Frau Michal, einer Grundschullehrerin, nach Potsdam. „Mit einem One-Way-Ticket“ – auch wenn er davon träumt, später für immer in die Heimat zurückzukehren – „aber erst wenn der Messias kommt“. Der Rabbi ist überzeugt, dass es gar nicht mehr lang dauert, bis der Weltenretter auftaucht.

Für die Potsdamer Gemeindemitglieder ist Rabbi Presman „ein junger Mann“. Das liegt daran, dass fast zwei Drittel der brandenburgischen Juden über 60 sind. Und daran, dass der Rabbi tatsächlich erst 35 Jahre alt ist. Er wirkt älter – trotz der rosigen Gesichtsfarbe. Vielleicht, weil das, was er sagt immer ein bisschen weise klingt. Etwa: „Mit dem materiellen Leben muss ein Jude zufrieden sein und sagen: Danke Gott, dass ich hier angekommen bin. Aber das Privatleben, die Liebe, die muss in Bewegung bleiben. Das ist, als wenn man mit dem Auto einen Berg hochfährt, stoppt man, rollt man runter.“ Vielleicht aber wirkt Rabbi Presman auch älter, weil andere 35-Jährige auf der Straße keine schwarzen langen Mäntel und Hüte tragen.

So gekleidet zündet er jedes Jahr im Dezember zum Lichterfest Chanukka die überdimensionale Menora vor dem Potsdamer Rathaus an. Ein Gabelstapler hebt den kleinen Mann zu den Kerzen des riesigen sechsarmigen Leuchters hoch. Von dort oben singt er dann mit knarzender Stimme hebräische Lieder und die Juden auf dem Rathausplatz versuchen ihm zu folgen. Die meisten hier kennen die Texte nicht. Früher haben sie andere Lieder gesungen – über Lenin und die Kommunistische Partei. Auch Rabbi Presman hat in der Sowjetunion das Licht der Welt erblickt oder besser die usbekische Maisonne, die ins Fenster des Taschkenter Krankenhauses fiel. Als seine Familie 1971 nach Israel ausreisen durfte, war er gerade drei Monate alt.

Er ist das jüngste von sieben Kindern. In der kleinen Stadt Keriat Malachi – 40 Kilometer südlich von Tel Aviv – lebte die Familie in zwei nebeneinander liegenden Neubauwohnungen. Zu Hause sprachen die Eltern mit den Kindern Jiddisch und vor allem Russisch. Am meisten Russisch hat er allerdings in Potsdam gelernt, sagt er. Selbst seinen Anrufbeantworter hat er auf Russisch besprochen – für seine Gemeindemitglieder.

In der Kindheit las Nachum viel, vor allem Bücher über den Holocaust. Er konnte dann nachts nicht schlafen – sein Vater, ein Rabbi, ist ein Überlebender, all seine Verwandten sind umgekommen. Zwischen Juli und August 1941 haben im bessarabischen Moldova nazideutsche und rumänische Spezialtruppen 160 000 Juden ermordet – „mein Papa konnte aus Moldava fliehen“.

Tagsüber spielte Nachum mit Freunden in den Gassen, „aber ich war kein Kind von Sport“, sagt er und man glaubt ihm sofort. Beim Fußball stand er immer im Tor, da musste er nicht so viel rennen. Er sei auch „schon immer ein ganz bisschen fett“ gewesen, ein „Nascher“ eben.

Er steht oft in der Küche, Kochen ist sein Hobby: „Am liebsten Chinesisch.“ Trotzdem – für einen jüdischen Nascher ist es in Deutschland gar nicht leicht, gerade im Sommer – „da hatten meine Kinder große Probleme und ich auch“, sagt Rabbi Presman. Denn in Potsdam gibt es kein koscheres Eis. Aber seit vergangenem Jahr hat wenigstens das Berliner Geschäft, in dem die Presmans immer einkaufen, welches im Angebot.

Seine Zwillinge Mirjam und Menachem Mendel werden in diesem Jahr acht, „am 26. März, oder?“ ruft er seiner Frau auf Hebräisch zu. Mit der christlichen Zeitrechnung kennt er sich nicht so gut aus, er lebt nach dem jüdischen Kalender – im Jahr 5767. Die beiden Kinder gehen in Berlin-Charlottenburg auf eine jüdisch-orthodoxe Grundschule. Sie befindet sich im selben Gebäude wie die Kita, die vor kurzem zum Tatort rechter Gewalt wurde. Die Wände waren mit Hakenkreuzen beschmiert, die Fensterscheiben zerschlagen von einer Rauchbombe. „Angst habe ich keine“, sagt Rabbi Presman: „Die Arschlochs kommen nur nachts, da sind keine Kinder in der Kita.“

Presman gründete vor zwei Jahren in Drewitz die erste jüdische Kita Brandenburgs. Nur zwölf Kinder besuchen sie. „Das sind wenig“, so wenig, dass das Geld, das Presman in den Kindergarten steckt, längst nicht wieder reinkommt. Nun will er in deutsch-russischen Zeitungen für seine Kita zu werben. Trotz der Geldsorgen plant Presman schon die nächsten Projekte: einen Treffpunkt für die rund 150 jüdischen Jugendlichen in Potsdam – einen Raum, in dem sie Billard oder mit dem Computer spielen können. Und eine Sonntagsschule. Denn noch sitzen jeden Sonntag acht Schulkinder in seinem Wohnzimmer am Esstisch mit der weiß-gold bestickten Damastdecke. Und Frau Presman lehrt sie dann das Judentum – kindgerecht mit Comics und Videofilmen.

Zwar ist Presman – wie es seine Pflicht als Jude ist – mit seinem „materiellen Leben“ stets zufrieden, einen wirklichen Grund scheint er dafür aber nicht zu haben. Der Rabbi ist verschuldet. „Wenn wir etwas machen müssen, machen wir es und warten nicht erst aufs Geld.“ Das Problem dabei: „Brandenburg hat keine reichen Jid.“ Also telefoniert Presman so oft er kann mit betuchten Familien in Israel, London, New York oder Miami. Sie sponsern nicht nur die Gemeindearbeit, sondern auch die Presmans. „Das reicht manchmal nicht für den jährlichen Israelurlaub und manchmal auch nicht für ein Kleid.“

Vor zehn Jahren, als die jüdische Gemeinde Potsdam die einzige in ganz Brandenburg war, überwies sie Presman noch jeden Monat 6000 Mark Gehalt. Das Land zahlte damals rund 300 000 Mark für seine 450 Juden. Mittlerweile hat sich deren Zahl vervierfacht, die Summe vom Land blieb aber gleich. Und der Rabbi arbeitet jetzt ehrenamtlich.

Das einzige regelmäßige Einkommen in der Familie verdient seine Frau Michal, die an der Heinz-Galinski-Schule in Berlin arbeitet. Doch der Großteil, „mehr als 1000 Euro“, geht für die Mietwohnung in der Hans-Thoma-Straße drauf. 170 Quadratmeter Altbau mit Eichenparkett, die hin und wieder auch als Synagoge dienen – etwa, wenn es im Sommer so heiß ist, dass man die Hitze hinter den Plattenwänden in der Schlossstraße nicht erträgt.

Seine Frau Michal hat Nachum Pressman vor zwölf Jahren geheiratet. Eine Schiduch, eine Ehevermittlerin hat sie zusammen mit seinen Eltern für ihn ausgesucht. In orthodoxen Kreisen der übliche Weg, denn Jungen und Mädchen wachsen ja getrennt auf, erklärt Presman. Auch er ging seit dem dritten Lebensjahr auf eine religiöse Jungenschule. Da kannte er nicht einmal in seiner Kleinstadt „die Mädele in der Gass“. Geschweige denn im großen Jerusalem, wo er die Oberschule besuchte. Nun ja, die Schiduch organisierte das erste Treffen der beiden. Spazieren, Essen, ein Gespräch im Hotel.

Das erste Mal prüfte er, „ob man kann auf sie gucken und ob man kann leiden ihre Stimme“. Eine „sehr seriöse Angelegenheit“. Die beiden mussten schließlich herausfinden, ob sie ihr Leben miteinander verbringen wollten. Manche brauchen dazu acht Treffen. Ihm war es schon nach dem zweiten klar: „Da bin ich nach Hause gekommen und hatte diese Gefühle im Herzen: Wow, ich will sie schon wieder sehen.“ Als Rabbi Presman das sagt, kichert er und kratzt seinen Hinterkopf, dass die Kipa in die Stirn rutscht. Und für einen kurzen Augenblick sieht er aus wie ein junger Mann.

Juliane Wedemeyer

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