Landeshauptstadt: Der Steh-Auf-Mann
Der Wahl-Potsdamer Dieter Hermann lebt seit 13 Jahren mit dem Aids-Virus und schreibt an seiner Biographie
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Der Wahl-Potsdamer Dieter Hermann lebt seit 13 Jahren mit dem Aids-Virus und schreibt an seiner Biographie Eine verschleppte Gelbsucht, Lymphdrüsenkrebs samt Chemotherapie, schwere Herz-Rhythmus-Störungen, Nebenhodenentzündung, mehrere Kreislaufkollapse – Dieter Herrmann weiß mit seinen 40 Jahren wie sich Schmerz und Krankheit anfühlen. Die Hoffnung auf komplette Heilung ist für ihn nur Illusion: Seit 13 Jahren trägt Früh-Rentner Dieter Herrmann den HI-Virus in sich, seit seinem 27. Lebensjahr lebt er mit der unbesiegbaren Furcht vor dem Ausbruch der Immunschwächekrankheit Aids. Zurzeit schreibt er eine Autobiografie und sagt trotz seiner Krankheit: „Ich bin wunschlos glücklich, vielleicht befinde ich mich sogar auf dem Zenit meines Lebens.“ Der etwa 1,65 Meter große, 53 Kilogramm schwere und sehr schlanke Mann sitzt auf einem Sofa, raucht, trinkt ein Bier. Hier fühlt er sich wohl, im „Quartier“, einer gemütlichen Kneipe in der Charlottenstraße. Vor drei Jahren kam Dieter Hermann mit seinem Freund Peter in die Stadt und fand für sich in der Aids-Hilfe Potsdam eine neue Aufgabe. „Nach den Treffen der Aids-Hilfe kommen wir oft hierher ins ,Quartier“ und trinken noch etwas“, erzählt Herrmann. Für die Aids-Hilfe geht er in Schulen und versucht besonders junge Menschen über die Gefahren der unheilbaren Krankheit aufzuklären. Zu seiner Arbeit sagt Sozialarbeiterin Hortense Lademann von der Aids-Hilfe Potsdam: „Dieter kann die Jugendlichen beeindrucken, da er seine lange Geschichte sehr lebendig erzählen kann – manchmal erfahren selbst wir von ihm noch einen neuen Baustein aus seinem Leben.“ Sein Blick zurück scheint ohne Bitterkeit, er erzählt souverän. „Ich habe schon jetzt so viel erlebt wie manch andere Menschen mit 80 Jahren“, sagt Herrmann. Er weiß, dass HIV-Positive inzwischen bei einer erfolgreichen Therapie zum Teil noch Jahrzehnte leben können, dass er aber auch wegen seiner restlichen Krankheiten schon längst hätte tot sein können. Deshalb nun das halbfertige Buch, die Gliederung steht schon. Fünf Kapitel wird das Werk haben: „Tod“, „Depressionen“, „Freundschaften“, „Schloss Bedheim“ und „Aidshilfe“. „Der Tod durchzieht mein Leben“ Tod, Depressionen, gebrochene Lieben – seit seiner Kindheit lernt Herrmann die traurigen Seiten des Lebens kennen. Die Eltern des in Delmenhorst bei Bremen geborenen Kindes sind Alkoholiker, früh landet Dieter in verschiedenen Heimen. Insgesamt wird er 22 Häuser in 15 Jahren sehen. Seine Eltern haben keine Zeit für den Sohn, sie trennen sich, die neue Stiefmutter ist gewalttätig und schlägt Dieter. Da ist er gerade 13 Jahre alt, zu seiner leiblichen Mutter Regina hat er in dieser Zeit keinen Kontakt. Erst durch Zufall treffen sich die beiden wieder, Regina hat inzwischen einen neuen Mann kennen gelernt – ebenfalls einen Alkoholiker. „Sie war der erste Mensch, dem ich gestanden habe, dass ich schwul bin“, erzählt Dieter, der seine sexuelle Neigungen mit 14 Jahren entdeckte, „Sie gab mir einen Kuss und meinte: ,Schade, nun werde ich keine Oma“.“ Sie stirbt 1984 plötzlich an einem Hirnschlag, Dieter ist 20 Jahre alt. Sein Stiefvater verhindert, dass er an der Beerdigung teilnimmt, bis heute hat er das Grab seiner Mutter nicht gesehen. Eine ihrer Lieblings-Weisheiten aus dem Umfeld der Anonymen Alkoholiker prägte sich Dieter Herrmann damals ein: „Gott gebe mir die Kraft, Dinge zu ändern, die ich ändern kann und den Mut, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann und die Weisheit, beides voneinander zu unterscheiden.“ Diese Fähigkeit soll Herrmann in seinem Leben noch zweimal besonders brauchen. Er sagt von sich: „Der Tod durchzieht mein Leben.“ Parallel zu seinen eigenen Krankheiten – seit 1984 die verschleppte Gelbsucht, zwei Jahre später kommt der Lymphdrüsenkrebs – lebt er zusammen mit seiner ersten großen Liebe Winfried Jacobi im Ruhrgebiet. „Wenn ich krank, ohne Geld, auf dem Strich oder sogar im Knast war, hat er immer zu mir gehalten“, sagt Dieter. Erst 1990 löst sich Hermann endgültig aus dem Untergrund-Milieu und zieht mit seinem Freund Jacobi weiter nach Essen, arbeitet in einem Altenheim. 1993 der Schock: Sein Partner bekommt Krebs, siecht acht Monate dahin, stirbt. Mit dem Erbe von 100 000 Mark sucht Dieter Hermann Trost in einer Karibik-Kreuzfahrt für 11 000 Mark: „Den Rest habe ich mit falschen Freunden versoffen.“ Lachen nach dem positiven Test In der Zeit der Trauer und der Ausschweifungen holt sich Dieter eine weitere unheilbare Wunde: Den HI-Virus von einem seiner zahlreichen Liebhaber. „Als ich das Testergebnis hörte, musste ich lachen“, sagt Hermann und meint die Krankheiten, die er bis dato schon überlebt hatte. „Mir war klar, dass ich kämpfen würde, um nicht unterzugehen.“ Ein Jahr später lernt er seine zweite Liebe kennen, Olaf Thomalla, der auch positiv ist. Gemeinsam schwirren sie durchs Leben, Dieter arbeitet sich bei der Kölner Messe zum Veranstalter hoch. Seinem Freund Olaf geht es trotz Aids gut, ein seltener Gen-Defekt bewahrt ihn davor, dass die Krankheit jemals ausbrechen kann. „Es ist bittere Ironie, dass er 1999 wie meine Mutter an einem Hirnschlag starb.“ Damals lagen die beiden Männer im Streit, Thomalla ließ sich von seinem Freund bloß noch aushalten. Einmal sind sie sechs Tage getrennt, dann kommt Dieter in die gemeinsame Wohnung: „Er lag schon seit Tagen dort in der Wärme.“ Dieter Hermann kam nie wieder zurück, „kann den Anblick bis heute nicht vergessen“. In dieser Zeit greift Hermann immer öfter zum Stift um über seine Erlebnisse zu schreiben, je nach Gefühl in Gedichtform oder als Tagebuch. Eine wichtige Inspirationsquelle wird dabei das südthüringischen Schloss Bedheim, dass Hermann 1997 zum ersten Mal besucht. Seither kommt er nicht mehr davon los. Rückzugspunkt Schloss Bedheim „Hier hat er angefangen zu schreiben und hier lernte er seine neue Liebe und aktuellen Partner Peter kennen“, sagt Bernhard Kirfel, der mit einem 16-köpfigen Team das soziokulturelle Projekt in Bedheim leitet. Das Schloss existiert seit 1996, seitdem versuchen die Verantwortlichen unheilbar Kranken Unterschlupf und Geborgenheit zu geben. Anfangs schrieb Dieter seine Gedichte und Lebenserinnerungen dort noch in ein dickes Gästebuch. „Voriges Jahr hatte er die Idee mit dem Buch“, erzählt Kirfel: „Ich gab ihm Tipps für die Kapitelgliederung.“ Nun ist es an Dieter Herrmann, sein Leben der Welt zu zeigen. Sich gegenüber Menschen öffnen, das kann er, schon oft stellte er sich den Fragen von Presse, Funk und Fernsehen. Er lacht: „Als ich einmal mit meinem jetzigen Freund in die Türkei flog, fragte mich dort eine Frau: ,Ich will dich kennen lernen und unbedingt wissen, ob du so cool wie im Fernsehen bist?!““ Dieter lächelt, zieht an seiner Zigarette, trinkt wieder einen Schluck Bier. Wenn er aus seinem Leben erzählt, springt er oft von Thema zu Thema: Seine Liebe zu deutscher Schlager-Musik wie Marianne Rosenberg, seine „Proteststimme“ für die PDS, verflossene Liebschaften, die Schönheit der Farbe Gelb, seine Reisen in Länder wie Schweden, Italien oder in die USA. Und er redet über seine täglichen kleinen und großen Schmerzen. Dabei spricht er über seine Krankheit wie über einen alten Bekannten, sagt: „Ich unterhalte mich mit dem Virus, wir haben einen Nichtangriffspakt.“ Manchmal ist das Immunsystem zu sehr geschwächt, 2000 hatte Hermann am gesamten Körper zum Teil offene Eiterbeutel, sein linker Hoden musste wegen einer Entzündung abgenommen werden: „Ich bin nicht traurig darüber, keinen Sex mehr zu haben – ich bin in manchen Dingen ein anderer Mensch als früher.“ Wann ein neuer Krankheitsschub kommt und wie lang er noch zu leben hat, weiß Dieter Hermann nicht. Es interessiert ihn nicht, deshalb raucht er trotz Raucherhusten immer noch eine Schachtel Zigaretten pro Tag und trinkt Alkohol. Ob er ewig bei der Aids-Hilfe weitermachen möchte, kann er nicht sagen. „Ich habe Dieter vor kurzer Zeit zum ersten Mal auf Schloss Bedheim erlebt, er ist völlig aufgeblüht“, sagt Hortense Lademann von der Aids-Hilfe Potsdam und weiß dabei, dass dies der letzte Wohnort im Leben von Dieter sein könnte. Auch er trägt den Gedanken im Hinterkopf, dort könnte er endlich sein Buch ohne den Zeitdruck des Alltags zu Ende schreiben: „Es ist aber schwer hier alles aufzugeben, dazu vermittle ich den Menschen zu gern meinem Optimismus – schließlich habe ich trotz allem immer irgendwo Glück gehabt.“ Dann denkt er nach, räuspert sich, trinkt einen weiteren Schluck Bier, hustet trocken: „Ich möchte mit dem Buch erreichen, dass etwas von mir nach dem Tod in der Welt hängen bleibt.“
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