zum Hauptinhalt
Wie die anderen. Die 14-jährige Zoe schnippelt wie ihre Mitschüler Gemüse. In der Förderschule war sie unterfordert, deshalb wechselte sie nach der 6. Klasse auf eine öffentliche Oberschule. Dorthin fährt sie sogar alleine mit dem Fahrrad. „Sie ist eine unheimliche Bereicherung für alle“, sagt ihre Klassenlehrerin.

©  Andreas Klaer

Inklusion: Der Weg der Zoe Topp

Normal und besonders: Das Mädchen mit dem Down-Syndrom ist das seltene Beispiel dafür, wohin Inklusion führt. Früher wäre für die 14-Jährige eine Förderschule vorgesehen gewesen, heute kann Zoe eine normale Regelschule besuchen.

Stand:

Die drei Kilometer vom Bahnhof zum Schlänitzsee fährt Zoe Topp mit dem Fahrrad. So wie die anderen auch. Sie besucht seit diesem Schuljahr die Montessori-Oberschule und an diesem frühlingshaften Tag sind die Siebtklässler fernab des Klassenraums, denn in dieser Woche ist Unterricht in der Jugendschule, draußen in der Wildnis eines ehemaligen Stasi-Erholungsgeländes.

„Ich bin ein ganz normales Mädchen“, sagt sie zu dem Fotografen, der ein Bild von ihr für die Zeitung machen will. Zoe ist heute der Kochgruppe zugeteilt. Erst mault sie, dann schnippelt sie doch beflissen Möhren für die Gemüsesuppe. Die Scheiben stapelt sie auf die Spitze des großen Schneidemessers und katapultiert sie Richtung Schüssel. „Toller Schuss“, ruft sie. Und zum Fotografen, dem sie direkt in die Kamera blickt, ein wenig kokett: „Kannst du das jetzt bitte lassen? Ich mag das nicht.“

Das Mädchen mit den zwei verschiedenen Haargummis in den Zöpfen hat eine ganz eigene Präsenz. Sie ist das beste Beispiel dafür, wie Menschen mit Down-Syndrom in unserer Gesellschaft sichtbar werden. In der DDR wäre ein Kind wie sie als nicht schulfähig eingestuft und in einem Heim unter staatlicher Obhut erzogen worden. Heute in Brandenburg besucht sie eine öffentliche Oberschule. Doch noch sind solche Wege hierzulande selten.

Was fragt man ein Down-Syndrom-Mädchen, über das man ein Porträt schreiben will? Was sie wohl mag? „Alles“, antwortet sie. Tanzen, Spagat, Reiten. „Ich liebe alles. Außer Jungs“. Nur manche mag sie doch. Mekyas, der neben ihr den Sellerie schält, gehöre nicht dazu, sagt sie. Mekyas lächelt. Zoe ist direkt, redet gern – und ist mit ihren 14 Jahren im besten Schwärmalter. Sie schwärmt für den schönsten Jungen und sagt ihm das auch. Sie schreibt Liebes-SMS, auch mitten in der Nacht. Das geht dann doch zu weit. Zoe hat deswegen schon Ärger bekommen.

Dass sie mit Zoe ein Down-Syndrom-Kind unterrichtet, ist für Ute Sievert, ihre Klassenlehrerin, nichts Aufregendes. „Bei uns haben eh alle ihre Besonderheiten“, sagt sie. Klar, Zoe rechne wie eine Erstklässlerin mit Hilfsmitteln, dafür sei sie „in lebenstechnischen Fragen sehr, sehr weit.“

Zu der Lebenstechnik gehört für Zoe das Fahrrad. Schon zur Grundschule wollte sie mit ihrem Rad fahren. Das komme überhaupt nicht infrage, soll ihre Mutter anfangs gesagt haben. „Dann nehmen wir sie eben mit“, erwiderten daraufhin zwei Mitschülerinnen.

Jutta Schöler erzählt gern diese Episode, denn sie zeigt, wie Inklusion unter Kindern ganz leicht gelingt. Die ehemalige Professorin der Erziehungswissenschaft an der Technischen Universität Berlin kennt Zoe und ihre Familie schon lange. Vor zehn Jahren, als sie einen Vortrag über Kinder mit Down-Syndrom hielt, hat sie Zoes Mutter Maria Topp kennengelernt. Zoe war damals vier und ihre Mutter hatte viele Fragen. Inzwischen sitzt Maria Topp bei Veranstaltungen von Schöler mit im Podium und erzählt über den Werdegang ihrer Tochter.

Dass Kinder wie Zoe nicht mit einem Fahrdienst zur Schule gebracht werden, ist für Schöler eine grundlegende Bedingung für das Erleben von Normalität. Aber dass Zoe auch in die weiter entfernte Montessori-Schule jetzt noch mit dem Rad unterwegs ist, will Schöler nicht glauben. Doch so ist es. Zwar bekäme die Familie den kostenlosen Fahrservice sofort bewilligt, aber Zoe braucht das nicht, wie so vieles, was andere für ihr Leben vorbestimmten.

Damals, als Zoe eingeschult wurde, war für sie die Comenius-Schule für geistig Behinderte vorgesehen. Spätestens in der zweiten Klasse war Zoe unterfordert. „Die gesunden Vorbilder fehlten“, sagt Maria Topp rückblickend. Zoe war über die Sonderschule hinausgewachsen. Denn bis dahin sei sie „so normal wie möglich“ aufgewachsen, sagt ihre Mutter. Die Eltern, Anfang 20, lebten in einer Wohngemeinschaft, Zoes Freunde waren die anderen Kinder dort. Zoe besuchte einen Integrationskindergarten, verstand viel und wurde gut verstanden. Mit der Einschulung aber begann die Isolation. „Die Eltern haben sich bei der Wahl der Schule verunsichern lassen“, glaubt Jutta Schöler. „Wir wussten gar nicht, was wir für Möglichkeiten hatten“, bestätigt Maria Topp.

Damals, als Zoe in der Sonderschule fast einging, griff Jutta Schöler erstmals ein. Schöler ist die Grande Dame der Inklusion. Sie hat in Brandenburg das Schulgesetz miterarbeitet, sie ist im wissenschaftlichen Beirat des Ministeriums zum Pilotprojekt der inklusiven Grundschule. Anfang März hat sie von Joachim Gauck das Bundesverdienstkreuz verliehen bekommen. Jede Woche rufen bei ihr zu Hause Eltern aus dem gesamten Bundesgebiet an. „Meistens geht es um moralische Rückendeckung“, wie sie sagt. Mit den Jahren hat Schöler wohl mehr als hundert Kinder auf den rechten Weg gebracht, Eltern und Lehrer beraten. Zoes Fall aber sei sehr selten, sagt sie, die wenigsten wechseln von einer Sonderschule zur Regelschule. Zoes Eltern habe sie zur nächstgelegenen Grundschule für ihr Kind geraten und den dortigen Lehrern Weiterbildungen angeboten.

„Es war für uns ein Schritt in eine blinde Zone“, sagt die Leiterin der Rosa-Luxemburg-Schule, Sabine Hummel. Ein mulmiges Gefühl habe sie damals gehabt, als sie Zoe angenommen hat. „Woher sollen wir die Erfahrung und Unterstützung nehmen, mit so einem Kind differenziert zu arbeiten?“, fragte sie sich. Heute sagt sie: „Zoe war ein toller Einstieg. Die Scheu und Distanz zu Down-Syndrom-Kindern ist weg“. Zwei andere Kinder mit Trisonomie 21 besuchen derzeit die Rosa-Luxemburg-Schule.

Nach der sechsten Klasse wechselte Zoe auf die Montessori-Oberschule. Es ist die Schule im Land, die die längste Erfahrung in der Integration von behinderten Kindern vorweisen kann. Doch das macht es nicht unbedingt leichter. Dass die Schüler sich hier selbst eine Struktur zum Lernen erschaffen müssen, ist für Zoe ungewohnt bis unmöglich. Sie sei hier oft allein auf sich gestellt, sagt ihre Mutter. Dann schreibt sie Bücher ab. Maria Topp vermisst einen Förderplan, wie es einen an der Grundschule gegeben hat. Sie ist im Gespräch mit den drei Klassenlehrern. Vielleicht passe die Schule mit ihrem Konzept auf den ersten Blick nicht, um Jugendliche wie Zoe zu fördern, sagt Schöler. „Aber man kann sie passend machen“. Dass das Brandenburger Bildungsministerium allerdings keinen Gesetzentwurf zur Inklusion in der Sekundarstufe auf den Weg gebracht hat, hält Schöler für einen Fehler. „Es wird an den Potsdamer Schulen nicht viele Beispiele wie Zoe geben.“

Am Schlänitzsee müssen die Tische auf den Essplatz gestellt werden. Große Holzplatten auf zwei Böcke hieven – die Jungs tun sich schwer und sind ungeschickt, Zoe packt mit an. Es ist für sie ein Kinderspiel. Beim Essen werden alle gemeinsam an den Tischen sitzen. Zoe aber wird länger als die anderen bleiben und einen Moment lang alleine sein. „Sie ist eine unheimliche Bereicherung für alle“, sagt ihre Klassenlehrerin Ute Sievert. Als Zoe merkt, dass Frau Sievert über sie spricht, kommt sie zu ihr und schmiegt sich an sie. „Hast du auch keinen Lippenstift drauf?“, fragt Sievert das Mädchen. „Ich hab sonst Schmiere an der Jacke“.

Und was kommt nach der Schule, wenn alles gut geht, in vier Jahren? Zoe wird mit ihren Eltern eine Tour durch Deutschland und Europa machen, so schwebt es Maria Topp seit Langem vor. Die besten Beispiele für die Integration von jungen Erwachsenen wollen sie sich anschauen. Vielleicht gibt es bis dahin auch Vorzeigeprojekte in Brandenburg.

Grit Weirauch

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })