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Das Stasigelände in der heutigen Hegelallee.

© Bernd Blumrich

30 Jahre Mauerfall: Die Besetzung der Potsdamer Stasi-Zentrale jährt sich

Am 5. Dezember 1989 besetzten Potsdamer die Stasi-Bezirkszentrale. Gleichzeitig begann die provisorische Stadtregierung durch ein Bürgerkomitee – und ein Tauziehen zwischen alten und neuen Kräften.

Das mit Spitzen bewehrte Metalltor. Eine Mauer. Bewaffnete Wachen. An der Bezirkszentrale der DDR-Staatssicherheit in der heutigen Hegelallee waren die Ereignisse des Herbstes 1989, die Massendemonstrationen auch in Potsdam, scheinbar spurlos vorübergegangen. „Das Haus war immer noch eine Drohgebärde“, sagt Manfred Kruczek. Der 69-Jährige war seinerzeit im Neuen Forum aktiv und einer der Initiatoren der Besetzung vom 5. Dezember 1989. Als Erstürmung in geordneten Formen charakterisiert er das Geschehen. Was folgte, war auch ein Tauziehen zwischen alten und neuen Kräften – darum, wie es nach der Maueröffnung weitergehen, wer Veränderung in der Stadt gestalten sollte. Manfred Kruczek spricht von einer „Phase zwei“ der friedlichen Revolution. In Potsdam begann sie an jenem 5. Dezember.

Zwei Tage vorher war in Berlin die SED-Führung unter Generalsekretär Egon Krenz zurückgetreten. Gleichzeitig waren in Grünheide südöstlich der Hauptstadt einmal mehr Vertreter des Neuen Forums aus dem ganzen Land zusammengekommen, so wie schon im September, als dort der Gründungsaufruf für die neue Bürgerbewegung verabschiedet worden war. Wieder waren aus Potsdam die beiden Physiker Rudolf Tschäpe und Reinhard Meinel dabei. Diesmal ging es um den weiteren Fahrplan für die friedliche Revolution: Landesweit sollten Kontrollgruppen gebildet werden, schlugen die Bürgerrechtler vor. Denn sie fürchteten, dass Stasi-Akten vernichtet und Volksvermögen außer Landes geschafft werden könnten. Schon tags darauf besetzten Bürger in Rathenow sowie in Erfurt und Leipzig die ersten Stasi-Dienststellen.

Der Oberbürgermeister wirkte fast erlöst

Potsdam folgte am 5. Dezember. Manfred Kruczek erinnert sich an den Anruf von Rudolf Tschäpe mit der Bitte, mitzumachen. Gemeinsam mit fünf Mitstreitern – neben Tschäpe und Meinel auch Anette Flade, Heidrun Liepe und der spätere SPD-Baustadtrat Detlef Kaminski – stattete man um 10 Uhr zuerst Oberbürgermeister Manfred Bille einen Besuch in dessen Büro ab. Die Stimmung in den Wochen davor sei angespannt gewesen, erinnert sich Kruczek: „Nach jeder Demo seit dem 4. November sind Demonstranten vor die Hegelallee gezogen.“ 

Vom Stadtoberhaupt wollten die Bürgerrechtler nun wissen, welche Maßnahmen zur Deeskalation aber auch zur Sicherung der Stasi-Akten vor der Zerstörung geplant seien. Einen apathischen Eindruck habe Bille in seinem Büro gemacht: „Er wirkte fast erlöst, als wir ihm sagten, dass wir das in die Hand nehmen.“ Von Billes Telefon aus riefen die Bürgerrechtler Volkspolizei und die Staatsanwaltschaft an und baten um Unterstützung für die Stasi-Besetzung – mit Erfolg.

Seit dem Morgen hatten die Bürger vor dem Gelände gewartet

Um 12 Uhr wurden die ersten Bürger auf das Stasi-Gelände gelassen. Seit dem Morgen hatten sie vor dem Tor gewartet. Unter den Wartenden war auch Frank Otto, damals Dozent an der kirchlichen Ausbildungsstätte für Gemeindediakonie und Sozialarbeit und im Neuen Forum aktiv. Er habe seine Studenten eingeladen, „damit wir ein einigermaßen erklecklicher Haufen waren“, erzählt er. Irgendwann war es dann soweit, er durfte auf das Gelände – mit gespaltenen Gefühlen: „Einerseits der Gedanke: Jetzt geht das zum Glück auch vorbei“, erzählt er. Anderseits beschreibt er einen Ohnmachtszustand: „Da war alles so groß, so viele Menschen auf dem Gelände – man hatte das Gefühl, wenige gegen viele zu sein.“

In der Tat ging es erst einmal darum, überhaupt einen Überblick zu bekommen, sagt Manfred Kruczek. Man habe die Stasi-Mitarbeiter nach Einheit und Aufgaben befragt – nicht immer mit Erfolg. Ratlos bis arrogant seien die Stasileute aufgetreten. „Wir hatten den Eindruck, die hatten ihre Schäfchen schon im Trockenen“, sagt Kruczek. Die Bürger versiegelten mit Hilfe der Polizei Räume, sicherten Technik und Akten – auch bereits geschreddertes Material. Die eingeforderte Liste über alle von der Stasi in Potsdam genutzten Objekte sollten die Bürgerrechtler aber erst Ende Januar zugespielt bekommen.

Es gab Störmanöver und Drohungen

Zugleich gab es immer wieder „Störmanöver“ seitens der Stasileute, wie Manfred Kruczek sich heute erinnert. So sei kurz nach der Besetzung des Stasi-Geländes ein Flugblatt in Umlauf gebracht worden, in dem mit der Blockierung des Grenzübergangs Drewitz gedroht wird, sollte die beschlagnahmte Stasi-Technik nicht zurückgeben werden.

Noch am Nachmittag des 5. Dezember beschlossen die Bürgerrechtler bei einem zweiten Treffen im Büro des Oberbürgermeisters, ein Kontrollgremium einzurichten. Der „Rat der Volkskontrolle“ trat am 6. Dezember erstmals zusammen. Vertreten waren zehn DDR-Parteien und -Massenorganisationen und zehn neue Gruppierungen, darunter das Neue Forum, die Evangelische Kirche, die Antifa und die katholische Arche.

Bis zur Wahl der Stadtverordnetenversammlung im Mai 1990 tagte der „Rat der Volkskontrolle“ 21 mal. Zugleich wurde im Stadthaus für die Bürger eine Anlaufstelle eingerichtet. Im dort geführten Buch sind 554 Bürgeranliegen verzeichnet, wie Gisela Rüdiger und Gudrun Rogall im Buch „Die 111 Tage des Potsdamer Bürgerkomitees“ zusammenfassen. Viele Potsdamer gaben Hinweise auf Stasi-Objekte, Korruption oder Amtsmissbrauch, aber auch Millionen-Abhebungen von Stasi-Mitarbeitern in Potsdam werden dem Gremium angezeigt – das informiert den Untersuchungsausschuss der Volkskammer. Auch mit persönlichen Problemen wie einer kalten Wohnung melden sich Bürger.

Aufgrund eines Bürgerhinweises konnte der Rat der Volkskontrolle die geplanten üppigen Übergangszahlungen für Stasi-Mitarbeiter aufdecken, berichtet Kruczek. In den Brandenburgischen Neuesten Nachrichten (BNN), dem Vorgänger der PNN, war am 23. Dezember erstmals davon zu lesen. Nach DDR-weiten Protesten wurden die Pläne dann im Januar zurückgenommen.

Potsdamer liehen den Bürgerrechtlern ihre Autos

Die Ereignisse vom 5. Dezember und danach sind für Manfred Kruczek Beleg dafür, dass das Engagement der Bürger mit der Maueröffnung nicht zum Erliegen kam, wie es mitunter heißt. „Auch danach war noch eine unwahrscheinliche Mobilisierung möglich“, sagt er. Beispielsweise hätten motorisierte Potsdamer am 5. Dezember kurzfristig ihre Autos ausgeliehen – denn die Bürgerrechtler waren noch bis in die Nachtstunden unterwegs und gingen Hinweisen auf Stasi-Objekte unter anderem in Golm und in Groß Glienicke nach, wie Kruczek berichtet. „Den Eindruck, dass die Revolution nach dem 9. November vorbei war, kann ich nicht teilen.“

Am Donnerstag um 11.30 Uhr erinnern die Initiatoren von damals gemeinsam mit der Stadt an die Stasi-Besetzung. Bei der Veranstaltung soll auch eine Gedenktafel am Eingang zur Hegelallee 8 angebracht werden. Am Abend um 19 Uhr gibt es im Potsdam Museum im Zeitzeugengespräch mit Manfred Kruczek und Thomas Wernicke, moderiert von Susanne Fienhold Sheen. Der Eintritt ist frei.

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