Von Ralf Nestler: Die Beulen der Erde
Die Sonde „GOCE“ soll das Schwerefeld der Erde vermessen – um ein Mehrfaches genauer als das bislang möglich war
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Regentropfen, Kugelschreiber, und manchmal auch ein frisch bestrichenes Marmeladenbrot – jeder Gegenstand fällt nach unten. Aber nicht überall auf der Erde geschieht das gleich schnell. Der Grund dafür sind feine Unterschiede in der Gravitationskraft. Wie stark sie ist, hängt unter anderem von der Entfernung zweier Massen ab. Da spielt es schon eine Rolle, ob der Stift einem Polar- oder Urwaldforscher aus der Hand gleitet: Aufgrund der Rotation der Erde werden die Pole flach und das Land am Äquator nach außen gedrückt. Im Vergleich zur idealen Kugel beträgt die Abweichung immerhin 21 Kilometer und die Schwerkraft an den Polen ist deswegen ein halbes Prozent stärker als am Äquator. Der dick eingepackte Arktisforscher mit klammen Fingern muss deshalb schneller reagieren als sein Kollege im Regenwald. Außerdem ist entscheidend, was sich zwischen dem Fußboden der Forschungsstation und dem Erdmittelpunkt befindet. Sind es Gesteine mit hoher Dichte, ist mehr Masse vorhanden, das heißt, die Gravitationskraft ist größer und der Stift fällt schneller.
Im März dieses Jahres hat die europäische Raumfahrtagentur ESA eine Forschungssonde gestartet, mit der die Gravitationskräfte auf der gesamten Erdoberfläche um ein Mehrfaches genauer bestimmt werden können als es bislang möglich war. Das Schwerefeld, das die Forscher erhalten, kann ihnen die Arbeit wesentlich erleichtern. „Mithilfe von Gravitationsdaten kann man beispielsweise Lagerstätten von Erz Öl und Gas finden“, sagt Christoph Förste. Der Physiker arbeitet am Geoforschungszentrum Potsdam (GFZ), das an der Entwicklung dieser Satellitenmission beteiligt war und zu den wichtigsten Abnehmern der Messdaten zählen wird. „Wir wollen damit aber vor allem Meeresströmungen erforschen, um die Klimamodelle zu verbessern.“
Die Sonde namens „GOCE“ (Gravity Field and Steady-State-Ocean Circulation Explorer) wurde von einem europäischen Industriekonsortium gebaut, an dem die deutsche Firma EADS Astrium maßgeblich beteiligt war. Bau und Entwicklung haben rund 300 Millionen Euro gekostet. GOCE hob an Bord einer Trägerrakete vom nordrussischen Raumfahrtbahnhof Plesetsk bei Archangelsk ab und umrundet die Erde in einer Höhe von 250 Kilometern. „Im Vergleich zu anderen Satelliten ist das sehr wenig, aber je näher GOCE der Oberfläche kommt, desto genauer sind die Messungen“, sagt Förste. Niedriger könne der Satellit aber nicht fliegen, weil die Restatmosphäre mit abnehmender Höhe dichter und dadurch die Reibung stärker wird. Die fünf Meter lange Sonde würde dann zu stark abgebremst und deutlich mehr Treibstoff verbrauchen.
Um das Schwerefeld zu erfassen, ist GOCE mit Sensoren ausgerüstet, die Veränderungen der Beschleunigung in allen drei Raumrichtungen messen. Dabei handelt es sich um etwa faustgroße Metallwürfel, die mit elektrostatischen Kräften schwebend in einem Käfig gehalten werden. „Ändert sich die Erdanziehungskraft, verschieben sich die Würfel“, erklärt Förste. Aus der Kraft, die nötig ist, um die Metallstücke wieder ins Zentrum der Hülle zu verschieben, lasse sich die Gravitationskraft berechnen. Die Messung ist so präzise, dass an dem Satelliten keine beweglichen Teile sein dürfen; schon eine schwenkbare Antenne würde zu große Störungen hervorrufen.
Da die Schwerkraft auch mit der Entfernung vom Erdmittelpunkt variiert, müssen die Forscher genau wissen, welche Position der Satellit hat, um dessen Messdaten zuordnen zu können. Dafür hat GOCE ein GPS-System an Bord, mit dessen Hilfe man die Position des Satelliten zentimetergenau berechnen kann. Zudem ist an der Unterseite des Satelliten ein Reflektor für Laserstrahlen montiert. Damit kann man die Sonde von der Erde aus mit Laserteleskopen anpeilen und ihre Bahn bestimmen.
Aus all diesen Daten wollen die Geoforscher das Geoid berechnen – eine Art virtuelle Hülle um die Erde. Das Geoid entspricht auf den Weltmeeren dem Zustand des Wassers in perfekter Ruhe, also ohne die Einflüsse von Wind und Wellen, selbst die Gravitation von Sonne und Mond wird herausgerechnet. Dieses theoretische Meeresspiegelniveau wird beispielsweise zur Höhenangabe von Bergen genutzt – in Gestalt der Einheit „müNN“ = Meter über Normalnull.
„Das Geoid ist aber keineswegs eben, es hat mächtige Beulen und Dellen“, sagt Förste. Am bekanntesten ist die Vertiefung südlich von Indien. Rund 100 Meter liegt dort der Meeresspiegel tiefer als es der Geometrie einer rotierenden Kugel zufolge sein sollte. „Der Meeresspiegel richtet sich an der Gleichgewichtsfläche der Schwerkraft aus“, sagt der Geoforscher. Offenbar haben die Gesteine unter dem Indischen Ozean eine verhältnismäßig geringe Dichte, was zur Folge hat, dass die Gewichtskraft dort schwächer ist. Dieses Defizit lässt sich nur ausgleichen, indem man dem Erdmittelpunkt näher kommt. Da sich das Ozeanwasser am Boden der Vertiefung genauso wie am Rand im Gleichgewicht mit der Schwerkraft befindet, fließt auch kein Wasser in die Delle hinein.
Bis auf einen Höhenzentimeter genau soll GOCE das Geoid bestimmen. Anschließend wollen die Wissenschaftler dieses theoretische Meeresspiegelniveau mit der tatsächlichen Lage der Wasseroberfläche vergleichen, die sie von anderen Satelliten erhalten. Mithilfe der Differenz zwischen Theorie und Wirklichkeit hoffen sie, weitere Meeresströmungen zu identifizieren. „Wenn in den Ozeanen Wasser strömt, wölbt sich die Oberfläche nämlich auf“, sagt der Geoforscher Förste. Einen ähnlichen Effekt könne man auch in der Badewanne beobachten: Nachdem der Stöpsel gezogen wurde, bildet sich ein Strudel, der die Oberfläche krümmt.
Draußen auf den Weltmeeren sind die Dimensionen etwas größer. In der Karibik beispielsweise, wo der oberflächennahe Golfstrom beginnt, liegt der Meeresspiegel bis zu zwei Meter über dem Geoid. Wenn sie nun kleinere Wasserhügel entdecken, können sie auch untergeordnete Meeresströmungen identifizieren, hoffen die Geowissenschaftler.
„Je genauer die Daten über die Strömungen sind, desto besser sind die Klimamodelle“, sagt Förste. Und um so besser könne man sich auf die klimabedingten Veränderungen wie steigende Meeresspiegel einstellen und genau sehen, wo etwa Deiche erhöht werden müssen.
Bis das gelingt, wird es aber noch etwas dauern. Der Satellit befindet sich zwar schon in der Umlaufbahn, aber seine Messapparate müssen gegenwärtig noch kalibriert werden. Das dauert etwa noch einen Monat. Anschließend bleiben noch etwa anderthalb Jahre für den Forschungsflug, bevor der Treibstoff verbraucht ist. Dann wird GOCE wie ein Marmeladenbrot zum Erdmittelpunkt gezogen – und in der Atmosphäre verglühen.
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