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Wie hältst du’s mit der Religion? Am größten ist das Interesse am evangelischen Religionsunterricht in den Grundschulen. Rund 18 000 Kinder, das sind mehr als 17 Prozent der Brandenburger Grundschüler, nehmen daran teil. Insgesamt besuchen rund 35 700 Schüler den Bekenntnisunterricht an staatlichen und freien Schulen.

© Kitty Kleist-Heinrich

Religionsunterricht in Brandenburg: Die Gretchenfrage

Evangelischer Religionsunterricht wird immer beliebter. Doch aus Sicht der Kirche trägt das Land dem nicht genügend Rechnung

Stand:

Die Abiturprüfung beginnt wie immer in Hermannswerder mit einer Morgenandacht. Josefine Mögling ist eine von zehn Schülern in ganz Brandenburg, die am Dienstag ihr schriftliches Abitur im Leistungskurs Religion ablegen. Nach der Andacht: vier Stunden verschlossene Türen, Schweigen, intensive Textarbeit. Schwer sei der Text gewesen, wird die 18-jährige zu ihrer Lehrerin Erdmute Nieke sagen, als sie aus dem Raum kommt und ihre Tasche zusammenpackt. Eigentlich hätte sie gern ein theologisches Thema bearbeitet, erzählt sie. Aber das stand nicht zur Wahl. Das Bildungsministerium hatte es aus den Aufgabenstellungen gestrichen. Josefine hat sich für einen Text zur Ekklesiologie – der Lehre von der Kirche – entschieden. Der Theologie-Text, tröstet Lehrerin Nieke, wäre noch schwieriger gewesen.

Josefine gehört zum zweiten Jahrgang an Schülern, die Religion als Leistungskurs am Gymnasium gewählt haben. Im vergangenen Jahr feierten sich die Schüler auf ihrer Facebook-Seite als ersten Leistungskurs in Brandenburg seit der Christianisierung des Landes im Jahr 948. Die 18-jährige Josefine muss nicht lange überlegen, fragt man sie, warum sie ihn gewählt hat. „Ich will mir Gedanken machen über etwas, was nicht so präsent ist in unserer schnelllebigen Gesellschaft“, sagt sie. Außerdem sei sie Katholikin und habe „viele Kritikpunkte“ an ihrer Religion. Dreimal in der Woche, fünf Stunden lang hatte Josefine in den vergangenen zwei Jahren Reli und eine intensive Auseinandersetzung mit Texten, die man in den ersten Semestern eines Theologiestudiums vermutet: Hans Jonas' Gottesbegriff nach Ausschwitz, Schriften von Paulus über Luther, August Herman Francke bis hin zu Dorothee Sölle.

Der Leistungskurs in Hermannswerder ist so etwas wie der derzeitige Gipfel des Erfolgs von evangelischem Religionsunterricht im so oft als glaubensfern beschriebenen Brandenburg. In den vergangenen zehn Jahren hat sich die Zahl der Teilnehmer fast verdoppelt – und das bei rückläufigen Schülerzahlen. Inzwischen wählt jeder sechste Brandenburger Schüler in einer staatlichen Schule „Reli“ statt „LER“, dem Kurs zu Lebensgestaltung-Ethik-Religion. „Wo Religionsunterricht angeboten wird, nehmen zu einem beträchtlichen Teil nicht nur evangelische Schüler an dem Fach teil. Das spiegelt auch die Attraktivität des Faches wider“, sagt Friedhelm Kraft von der Evangelischen Landeskirche Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz (Ekbo). Kraft ist im Konsistorium der Landeskirche für den Bereich Schule und Bildung zuständig. Wenn man bedenke, sagt Kraft, dass viele evangelische Privatschulen die konfessionsnahen Schüler bereits wegziehen, dann sei der Zuwachs an den staatlichen Schulen umso signifikanter.

Auch der Leistungskurs in Hermannswerder wird immer beliebter. Für die kommende elfte Klasse gebe es bereits 20 Anmeldungen, sagt die promovierte Theologin Nieke. In der jetzigen elften Klasse unterrichtet ihr Kollege Thorsten Becker 16 Schüler. „Die Jugendlichen haben ein Gespür und ein Interesse für diese Themen“, sagt Becker. „Es sind Fragen, die ein ganzes Leben lang bleiben: über Gott und das Böse oder über das Leben nach dem Tod.“ Die Schüler sind evangelisch, katholisch oder konfessionslos. „Das belebt das Ganze“, meint Becker. Schließlich sei das keine konservative Bibellehre, sondern eher diskussionsintensiver Unterricht. Becker findet sein Fach sogar „cool“: „Die Beschäftigung mit solchen Fragen hat für den persönlichen Alltag etwas unheimlich Befreiendes und Mutmachendes.“

Auf der Suche nach den Gründen für den Höhenflug des Religionsunterrichts kommt man am Berliner Speckgürtel und damit auch an Potsdam nicht vorbei. Dort seien die Teilnehmerzahlen „wesentlich höher“, sagt Kraft von der Landeskirche. „Für Menschen, die aus alten Bundesländern zugezogen sind, ist Religionsunterricht sehr viel selbstverständlicher.“ Sie kennen ihn oft aus ihrer eigenen Schullaufbahn.

Was die steigenden Teilnehmerzahlen angeht, sei noch „Luft nach oben drin“, meint Kraft. Denn Religionsunterricht in Brandenburg ist längst nicht so selbstverständlich wie in anderen ostdeutschen Bundesländern. In Sachsen etwa ist Religion ordentliches Lehrfach. Dort würden die Teilnehmerzahlen 25 bis 30 Prozent der Schülerschaft ausmachen, sagt Kraft. Hierzulande seien es 16,5 Prozent. „Wir hinken den ostdeutschen Vergleichszahlen hinterher“, sagt Kraft. Immerhin sei die Regelung in Brandenburg besser als in Berlin. Dort gelte Religionsunterricht eher als „Anhängsel“ von Ethik, im regulären Stundenplan komme er gar nicht erst vor.

Die steigende Nachfrage nach Religionsunterricht fordert allerdings von der Landeskirche einige Investitionen, denn für die Finanzierung und die Organisation des Kurses ist sie selbst verantwortlich. Doch die finanziellen Mittel sind bekanntlich begrenzt. In ländlichen Gegenden ist es zudem schwierig, Pfarrer und Lehrkräfte zu finden, die die langen Fahrzeiten in Kauf nehmen, um Reli überhaupt anzubieten. Das Fach kann denn auch nur expandieren, wenn mehr Geld lockergemacht wird – sei es von der Kirche selbst oder vom Bildungsministerium. Bislang refinanziert das Land den Unterricht erst bei einer Mindestteilnehmerzahl von 16, andernfalls muss die Kirche die Kosten tragen.

Dass Religion kein gleichberechtigtes Wahlpflichtfach neben LER ist, spüren auch die Schüler selbst. Sie müssen sich offiziell bei der Schulleitung von LER abmelden, wollen sie den Religionsunterricht besuchen. 

Und noch mehr Besonderheiten gibt es: Die Zensur aus dem Religionsunterricht fließt – anders als die LER-Note – nicht in die Abschlussbewertung für den Übergang von der zehnten zur elften Klasse ein, also von der Sekundarstufe I zu II. Damit wird bei Schülern, die den Religionsunterricht besuchen, der Notendurchschnitt aus einer Note weniger gezogen. „Eine hinkende Gleichstellung“ von Religion und LER nennt das Kraft. „Diesen Punkt wollen wir mit dem Bildungsministerium weiter besprechen“, sagt er diplomatisch. Im Klartext: Die Regelung soll abgeschafft werden.

Auch beim Abitur hinkt es zu Ungunsten des Leistungskurses Religion. Während die Zwölftklässler im Fach Geschichte eines von drei Themen schriftlich bearbeiten müssen, können die Reli-Schüler nur aus zweien auswählen. Zwar musste Lehrerin Nieke drei Aufgabenstellungen beim Bildungsministerium einreichen, doch dort streicht man eine. Eine strategische Vorbereitung auf einen der drei Schwerpunkte ist so für die Schüler des Leistungskurses Religion nicht möglich. Ein Abi light sei es definitiv nicht, sagen die Lehrer Becker und Nieke.

„Wir sind in Brandenburg noch entfernt von einer religionssensiblen Schule in dem Sinne, dass Religionsunterricht zum Bildungsauftrag gehört“, sagt Friedhelm Kraft von der Landeskirche. Religionssensible Schüler aber gibt es immer mehr: Früher, erzählt Josefine Mögling, ging sie in die Kirche, weil man eben in die Kirche ging. Inzwischen besuche sie Gottesdienste aus „Selbstantrieb“ – und betrachtet ihn sozusagen mit professionellem Blick.

Grit Weirauch

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