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Landeshauptstadt: Die Krankheit mit den 1000 Gesichtern

An Multipler Sklerose leiden etwa 600 Potsdamer / Sieben wurden bisher Berater

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Mehr als zehn Jahre dauerte es, bis Hannelore W. die Diagnose ernstnahm. „Es ist ein Prozess, der in einem wächst“, sagt die Potsdamerin heute. Als der Arzt 1993 bei ihr Multiple Sklerose (MS) feststellt, geht sie der Konfrontation mit der Krankheit zunächst aus dem Weg. Zu einer Selbsthilfegruppe will die Wirtschaftsingenieurin nicht gehen: „Geholfen wird dir sowieso nicht, du musst ja allein damit klar kommen“, sagt sie sich. Zwar leidet sie unter „kognitiven Beeinträchtigungen“, fühlt sich an manchen Tagen schwach und erschöpft, hat Wortfindungsstörungen oder ein Kribbeln in der Hand. Dass es Symptome der „Krankheit mit den tausend Gesichtern“ sind, will sie zu dem Zeitpunkt- trotz der Diagnose - „nicht wahrnehmen“.

Etwa 600 Potsdamer leiden an der Nervenkrankheit, schätzt Marianne Seibert, die Vorsitzende des Landesverbandes der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG). Brandenburgweit rechnet sie mit 4000. Genaue Zahlen gebe es nicht, weil MS nicht meldepflichtig sei. Die Ursachen der unheilbaren Krankheit, die zu zwei Dritteln Frauen betrifft, gelten noch als ungeklärt. Die Symptome gehen auf Entzündungen im Gehirn und Rückenmark zurück. In Folge dieser Entzündungen entstehen vernarbte Stellen (Sklerosen), die die Funktion des Nervensystems beeinträchtigen können. Aber nicht alle MS-Erkrankten landen im Rollstuhl, betont Seibert. Die Krankheit, die meist im frühen Erwachsenenalter beginnt, verläuft schubartig. Mit Lähmungen im Gesichtsbereich, Stolpern oder zwischenzeitlicher Erblindung kann sich ein solcher Schub bemerkbar machen.

Hannelore W. wird 2004 zu einem Krankenhausaufenthalt gezwungen, als ihr die Beine plötzlich den Dienst versagen: „Ich bin aus dem Stand hingefallen“, erinnert sie sich. Durch Mitpatientinnen im St.-Josefs–Krankenhaus findet sie den Weg in eine der drei Potsdamer Selbsthilfegruppen. „Gleichgesinnte zu treffen“, habe gut getan und ihr geholfen, mit der Krankheit umzugehen. „Ich habe mich verstanden gefühlt.“ Mit bewusster Lebensweise könne man die Schubrate verringern und den Krankheitsverlauf abbremsen, weiß sie.

Jetzt will die berentete Potsdamerin eine eigene Selbsthilfegruppe gründen. Am vergangenen Samstag erhielt sie, zusammen mit sieben Brandenburgern, in Potsdam das Zertifikat der Ausbildung „Betroffene beraten Betroffene“ der DMSG. Das von der AOK unterstützte Projekt existiert seit 2003. Mittlerweile sind 27 Berater ehrenamtlich tätig, in Potsdam sind es seit Samstag sieben.

So trifft sich Silke Koslowsky seit zwei Jahren mit MS-Neubetroffenen im Café „Alex“ in der Wilhelmgalerie. Als die Biologin 2003 die Diagnose bekam, erschienen ihr Selbsthilfegruppen als „schwerfällig“. „Ein Angebot für Jüngere hat gefehlt“, sagt die 34-Jährige. An jedem vierten Dienstag im Monat sitzt die frisch Promovierte ab 19 Uhr im Café in der Stadtmitte: Es sei ein ungezwungener Kreis ohne Anmeldung. „Man trifft sich und quatscht“, so Koslowsky, die auch eine Internetseite für jugendliche Betroffene betreut. Zukunftspläne und Jobaussichten seien die wichtigsten Themen in der Altersgruppe bis 25. Koslowsky ist selbst gerade auf Jobsuche. Den geplanten Weg in der Forschung muss sie aufgeben: Denn für den geforderten 12-Stunden-Tage reiche ihre Konzentrationsleistung nicht mehr. Jana Haase

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