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SCHÖNBOHM meint: Die Mauer und mein Navi

Am Ende unseres Gartens verlief die Mauer. Unser Gartenzaun und der Buschgraben begrenzen heute den ehemaligen Todesstreifen.

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Am Ende unseres Gartens verlief die Mauer. Unser Gartenzaun und der Buschgraben begrenzen heute den ehemaligen Todesstreifen. Nichts erinnert mehr sichtbar an dieses Bauwerk. Im Zuge des entstandenen Mauerbiotops erinnern in Brandenburg Schilder daran, dass der Mauerstreifen für die Tierwelt ein Refugium war, in dem sich besondere Formen der Fauna und Flora erhalten haben. Wer die Geschichte des Ortes und der Gegend nicht kennt, erfreut sich des Biotops und der naturbelassenen Landschaft – er ahnt nicht die vergangene Wirklichkeit. Auf der anderen Seite der Mauer kann er hingegen dem Westberliner Mauerweg folgen.

Kürzlich fuhr ich mit laufendem Navi und zweien meiner Enkel von Westberlin nach Hause. Kurz hinter der Stadtgrenze forderte mich das Navi auf, in 50 Metern links abzubiegen, obwohl kein Weg erkennbar war – ich kannte diese Irreleitung, aber meine Enkelkinder fragten mich nach dem Grund hierfür, denn das Navi zeige doch immer nur Wege an, die es auch gebe. Ich hielt an und zeigte ihnen auf der eingeblendeten Karte und im Gelände den als Grünstreifen erkennbaren Verlauf der Mauer, der von dem Navi irrtümlich als Straße erkannt worden war. Ich versuchte den beiden neun- und elfjährigen Kindern die Mauer zu erklären, aber ihre Fragen waren deutlich: Warum baute man eine Mauer und warum wurden Menschen dort erschossen, wenn sie auf die andere Seite der Straße wechseln wollten? Zu Hause zeigte ich ihnen Bilder von der Mauer am Ende unseres Grundstücks und dem nur wenige Hundert Meter entfernten hohen Wachturm. Ich erklärte zum ersten Mal unseren jüngeren Enkeln die Mauer – sie konnten sich nicht vorstellen, dass unser Land und Familien so gewaltsam über Jahrzehnte getrennt wurden. Die älteren Enkel hatten hingegen die Funktionsweise der Mauer begriffen. Aber warum man Menschen einmauern musste, konnten auch sie nicht verstehen. Mir machte das Gespräch wieder klar, dass diese unmenschliche Mauer nicht zu verstehen und erklären ist. Manchmal reicht ja auch ein Blick auf das Navi und den Verlauf der Mauer, um sich zu erinnern, welch unvorstellbares Leid sie über die Menschen gebracht hat. Vielleicht brauchen wir unsere fragenden Enkel und Kinder, um das Irrsinnige und Unvorstellbare der Mauer nicht zu vergessen.

Unser Autor Jörg Schönbohm, Innenminister Brandenburgs a.D., lebt in Kleinmachnow.

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