POTSDAMER EXPERTISE FÜR WELTZUKUNFTSPLAN: „Die Zeit drängt gewaltig“
Der Agrarökonom Jes Weigelt über die 17 Nachhaltigkeitsziele der UN, das Vorbild Energiewende und ein notwendiges Umdenken im Finanzsystem
Stand:
Herr Weigelt, 2015 wurde die Agenda 2030 mit weitreichenden Zielen für ein nachhaltiges Zusammenleben der Menschheit von den Vereinten Nationen beschlossen. Warum kennt sie kaum jemand?
Die Agenda befasst sich mit nahezu jedem Aspekt des menschlichen Zusammenlebens – von Ernährung über Armutsbekämpfung und Regierungsführung bis hin zur Geschlechtergerechtigkeit. Das ist schwierig zu kommunizieren. Gleichzeitig beginnt die Rückübersetzung der für Deutschland vom Bundesumwelt- sowie dem Bundesentwicklungsministerium in New York verhandelten 17 globalen Ziele für nachhaltige Entwicklung jetzt erst.
17 Ziele, deren Erfüllung allen Menschen weltweit ein Leben in Würde ermöglichen soll – ist das nicht etwas zu ehrgeizig?
Die hohe Messlatte ist Ergebnis eines zwischenstaatlichen Verhandlungsprozesses der UN-Mitgliedstaaten. So wollen die Länder die Entwicklung der Erde im Jahr 2030 sehen, das ist der ambitionierte Anspruch. Die Zielvereinbarungen sind unverbindlich, allerdings können sie in den einzelnen Ländern Lernprozesse und Investitionen anstoßen. Das heißt nicht, dass alle Länder 2030 so aussehen werden. Aber der hohe Anspruch soll auch Ansporn dafür sein.
2030 ist bereits in 14 Jahren.
Genau, das Vorhaben ist absolut ambitioniert. Die 14 Jahre müssen deshalb unbedingt und dringend genutzt werden. Daher müssen wir jetzt mit der Umsetzung beginnen, jetzt überlegen, wie die Schritte dazu aussehen. Natürlich bewegen uns zurzeit vor allem der Umgang mit Migrationsströmen und das Erstarken populistischer Parteien in Deutschland. Aber die langfristigen nachhaltigen Entwicklungsziele müssen aktuell mitgedacht werden – eben auch um Fluchtursachen zu bekämpfen.
Unter den Zielen finden sich auch sauberes Trinkwasser, gesunde Ackerböden und der Klimaschutz – ist es in vielen Bereichen nicht bereits fünf nach zwölf?
Die Zeit drängt tatsächlich gewaltig. Aber genau deshalb sind wir so dankbar für die Agenda 2030, weil sie uns erlaubt, systematisch diese Themen noch einmal auf die politische Agenda zu bringen. Es ist für alle, die sich mit nachhaltiger Entwicklung befassen, eine gewaltige Chance, zu diesem Prozess der Agenda-Setzung beizutragen. Ende Mai soll dazu die überarbeitete deutsche Nachhaltigkeitsstrategie vorliegen.
Das Öl ist billig, einen ernst zu nehmenden CO2-Preis gibt es nicht, deutsche Ackerböden sind mit Nitrat belastet und die EU lässt umstrittene Pestizide weiter zu – läuft nicht doch alles weiter wie gehabt?
Wenn man sich die Entwicklungen im Detail anschaut, ergibt sich bei aller Notwendigkeit, größere Fortschritte zu erzielen, doch ein differenzierteres Bild. Eine genauere Analyse des Fortschritts bei der Umsetzung der Millenniumsziele von 2001 zeigt, dass größere Fortschritte erkennbar sind, beispielsweise bei der Geschlechtergerechtigkeit. Die Herausforderungen, vor denen Deutschland steht, machen auch unser Land zu einem Entwicklungsland, auch unser Weg ist nicht nachhaltig, auch wir müssen uns ändern. Aber wir sind in der Lage voranzugehen, um eine global nachhaltige Entwicklung zu ermöglichen.
Zum Beispiel?
In der Frage der Energiewende tritt Deutschland stark in Vorleistung. Die deutsche Energiewende und die Reduktion der Energiekosten aus erneuerbaren Energien sind ein sehr großer Beitrag zur globalen Nachhaltigkeit. Wir haben es geschafft, die neuen sauberen Energieformen international wettbewerbsfähig zu machen.
Brandenburgs Landesregierung sieht eine sichere Stromversorgung durch erneuerbare Energien noch nicht gewährleistet. Klimaforscher bemängeln, dass die Energiewende auf der Stelle tritt.
Das Phänomen, dass wir trotz Energiewende steigende CO2-Emissionen haben, ist eine Herausforderung für uns. Dass aber ein Land wie Indien in erneuerbare Energien investieren will, weil sie nun wettbewerbsfähig sind, ist auch ein Resultat der deutschen Energiewende. Wir haben hier eine globale Entwicklung angestoßen. Durch unsere Investitionen haben wir die Innovationen zur Marktreife gebracht – und dadurch als Vorreiter auch weltweit zur Entwicklung beigetragen.
Wo steht Deutschland grundsätzlich bei den Agenda-Zielen?
Es gibt kein Land, in dem die Ziele in ihrer großen Komplexität bereits alle erreicht wären. Natürlich startet Deutschland auf einem anderen Niveau als etwa ein Land in Afrika. Aber Fragen der Geschlechtergleichheit, die ungerechte Einkommensverteilung oder ressourcenintensiver Konsum betreffen auch uns.
Wie könnten Strategien aussehen?
Auch das hängt sehr stark von den einzelnen Ländern ab. Deutschland hat über die vergangenen 15 Jahre sehr systematisch in die Nachhaltigkeitsinfrastruktur investiert. Es geht nun darum, über die Ministerien hinweg zu einem koordinierten Ansatz zu kommen. Gleichzeitig müssen wir die Agenda 2030 auch auf die lokale Ebene tragen. Einen vergleichbaren Prozess der Bürgerbeteiligung wie nach Rio 1992 kann ich derzeitig noch nicht erkennen. Das ist ein wichtiges Investitionsfeld für die Bundesregierung. Damit wir unseren Kindern zeigen können, was die Umsetzung der nachhaltigen Entwicklungsziele – die sogenannten SDGs – bedeutet.
Was macht Nachhaltigkeit so wesentlich?
Nachhaltigkeit ist eine Investition in die Zukunft, die sich auszahlen wird. Von der Bekämpfung der Bodenerosion über die Energiewende bis zur Hungerhilfe zeigt sich, dass bei einer nachhaltigen Investition die Kosten langfristig fallen und Gewinne steigen. Anfangs müssen aber erste Investitionskosten überbrückt werden. Die Energiewende ist dafür ein gutes Beispiel.
Nachhaltigkeit kommt eigentlich aus der Forstwirtschaft – nicht zu viele Bäume fällen und dann nachpflanzen, damit immer ausreichend Bestand vorhanden ist. Wie passt das zur gegenwärtigen Wirtschaftsform des permanenten Wachstums?
Wir beschäftigen uns am IASS auch grundlegend mit solchen Fragen, etwa inwieweit das Finanzsystem überhaupt geeignet ist, eine nachhaltige Entwicklung zu ermöglichen. Unsere Antwort lautet, dass wir auch in diesem Bereich umdenken müssen. Wir verlieren viele Dimensionen der qualitativen Entwicklung aus dem Blick, wenn wir nur an eindimensionalen Kenngrößen des Wirtschaftswachstums festhalten.
Die Agenda setzt auch auf globale Partnerschaft. Wie soll das mit den – auch politisch – so sehr unterschiedlichen Staaten möglich sein?
Ein spannender Punkt ist dabei die zunehmende Ungleichzeitigkeit. Einerseits haben wir in vielen Ländern eine Entwicklung zu Autokratien und den Abbau von Demokratie. Gleichzeitig gibt es aber auch in diesen Ländern mittlerweile eine Vielzahl an Initiativen, die wiederum ein sehr buntes Bild entstehen lassen. Ohne es schönreden zu wollen: Es wird nicht nur alles schwieriger. Nehmen Sie ein IASS-Projekt zum Bodenerhalt als Beispiel: Hier lernen heute Organisationen aus Burkina Faso von ähnlichen Zusammenschlüssen aus Brasilien.
Die Unterschiede zwischen Erster, Zweiter und Dritter Welt sollen aufgelöst werden. Wie soll das gehen?
Die Unterteilung, mit der wir groß geworden sind, spiegelt bereits jetzt die Realität nicht mehr wider. Wenn man Brasilien oder China betrachtet, sind die Länder in sich enorm unterschiedlich. Auch bei uns gibt es große Unterschiede etwa zwischen Berlin-Zehlendorf und einem benachteiligten Ort im Ruhrgebiet. Wir müssen die Diversität in den einzelnen Ländern anerkennen und schauen, wie sich daraus Möglichkeiten für nachhaltige Entwicklung generieren lassen.
Wo liegen die größten Blockaden?
Wir sehen aktuell bei den Panama-Papers, dass systematische Optionen zum Betrug geschaffen werden, wir können beim VW-Abgas-Skandal sehen, dass etwas falsch läuft, wir erwischen uns selbst dabei, dass wir vielleicht argentinisches Rindfleisch gerne essen. Es gibt viele Blockaden, man muss auch bei sich selbst beginnen.
Liegt dem Menschen Nachhaltigkeit überhaupt?
Ich glaube, dass der Mensch grundsätzlich nachhaltig handelt. Bei eigenen Investitionen verhält man sich eher so, viele Menschen haben auch Freude an regionalen Produkten und saisonaler Küche. Ich bin da nicht pessimistisch. Veränderungen sind nötig, aber das macht es doch erst spannend.
Woher kommt Ihr Optimismus?
Martin Luther sagte schon, dass er heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen werde, auch wenn er wüsste, dass morgen die Welt untergeht. Die Diversität, also die Unterschiedlichkeit der Entwicklungen stimmt mich optimistisch. Gute Beispiele für Nachhaltigkeit anzuerkennen, ohne in blinde Naivität zu verfallen, sich der politischen Herausforderung bewusst zu sein und die Dinge dann mehrheitsfähig zu machen – das ist der Motor. Natürlich gehört da auch eine grundsätzlich optimistische Lebenseinstellung dazu. Als Pessimist wäre ich am IASS schlecht aufgehoben.
Welchen Anteil hat das IASS an der Entwicklung?
Zum Beispiel bei den CO2-Emissionen: Es soll ein sehr hohes Anspruchsniveau erreicht werden, gleichzeitig zeigen die Trends teilweise in die entgegengesetzte Richtung. Wie diese Lücke zwischen Anspruch und gegenwärtigem Trend überwunden werden kann, ist vor allem auch eine gesellschaftliche Lernaufgabe. Dazu muss man anerkennen, dass unterschiedliche Formen von Wissen notwendig sind, um gemeinsam mit Politik, Gesellschaft und Wirtschaft an Lösungsstrategien zu arbeiten. Genau das macht das IASS.
Das Gespräch führte Jan Kixmüller
Jes Weigelt (41)
ist Ko-Leiter des Forschungsprogramms
Nachhaltigkeits-Governance am Potsdamer Institute for Advanced Sustainability Studies (IASS). Er hat in Agrarökonomie promoviert.
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