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Landeshauptstadt: Die „Zusätzlichen“

Rund 1500 Ein-Euro-Jobber arbeiten in Potsdam – ob sie dabei reguläre Jobs vernichten, darüber gehen die Meinungen auseinander

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Rund 1500 Ein-Euro-Jobber arbeiten in Potsdam – ob sie dabei reguläre Jobs vernichten, darüber gehen die Meinungen auseinander Von Henri Kramer Marina Tatarenko ist eigentlich Diplom-Biologin. Doch in ihrem jetzigen Job hilft sie Migranten aus Russland und anderswo, sich in der Bürokratie ihrer neuen Heimat zwischen Krankenversicherungen und Arbeitslosengeld II zurecht zu finden. Nach einem Jahr Arbeitslosigkeit kennt sich die 35-Jährige im deutschen Behördendschungel aus und kann diese Erfahrung in ihrer neuen Arbeit bei der Urania-Schulhaus GmbH am Moosfenn nutzen: Marina Tatarenko arbeitet in einer von derzeit 1493 Ein-Euro-Job-Stellen in Potsdam. Ihr Vorgesetzter ist Ullrich Simchen, Geschäftsführer des Urania Schulhauses. Sein Haus bietet seit 1992 Aus- und Weiterbildung an. Die sechs Ein-Euro-Kräfte sind dabei seit März als Betreuer eingesetzt, die zum Beispiel Spätaussiedlern nach ihren regulären Sprachkursen helfen, in Potsdam weiter heimisch zu werden. Simchen zählt die Liste der zu lösenden Probleme auf: Kindergeld, Arztfragen, Wohnungssuche... „Sie sind froh überhaupt wieder sinnvoll unter Menschen arbeiten zu können“, sagt Simchen über die Ein-Euro-Kräfte. Es gäbe keine unentschuldigten Fehlzeiten, die Motivation wäre hoch. „Und natürlich wollen sie nach den üblichen drei Monate weitermachen“, so Simchen. Auch Marina Tatarenko hofft, dass sie wenigstens noch drei Monate länger bei der Urania arbeiten kann, auch wenn sie von ihren 1,30 Euro „Mehraufwandsentschädigung“ pro Stunde noch die Fahrtkosten für Bus und Bahn bezahlt. „Besser als nichts“, sagt Tatarenko. Vor so einer Mentalität warnt Simchen. Zwar profitiert seine Ausbildungsfirma von der Arbeit der Euro-Jobber, von deren Grundidee scheint der Urania-Mann aber nicht gänzlich überzeugt. Es müsse mehr um die dauerhafte Integration der Menschen in den Arbeitsmarkt gehen, durch den Job müssten ihre Stärken und Schwächen ausgelotet werden, es sollte sich kein billiger Arbeitsmarkt einpendeln. „Die Leute in Ein-Euro-Jobs dürfen sich nicht missbrauchen lassen“, fasst Simchen zusammen. Um den befürchteten Effekt zu vermeiden, dass Ein-Euro-Jobber als billige Konkurrenz zu normalen Unternehmen auftreten, gibt es den so genannten Beirat der Potsdamer Arbeitsgemeinschaft zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (Paga). In dem beratenden Gremium sitzen neben Stadtverwaltung und Gewerkschaftern auch Vertreter der Wirtschaft. Einer davon ist Harry Nöthe, Abteilungsleiter bei der Handwerkskammer Potsdam. Über seinen Tisch gehen die Anträge von potenziellen Trägern, die sich den Einsatz von Ein-Euro-Jobs in ihren Betrieben oder Vereinen vorstellen können. Pro Woche entscheidet Nöthe „fünf- bis sechsmal“, ob die jeweiligen Projekte den für Ein-Euro-Jobs maßgeblichen Kriterien der „Gemeinnützigkeit“ und „Zusätzlichkeit“ entsprechen. „Hausmeistertätigkeiten gehen bei mir nicht durch“, sagt Nöthe. Grundsatz sei, dass Tätigkeiten, die nicht auch vom Handwerk ausgeführt werden könnten, von ihm nicht genehmigt werden – die beanstandeten Teile eines Antrags meldet er dann der Paga. Als Beispiel nennt er, dass es in einem Fall um die kostengünstige Entfernung von Graffitis ging – eine Arbeit, für die es auch in Potsdam spezielle Firmen gäbe. Also hat er abgelehnt. „Wir wollen dabei nicht als Verhinderer dastehen, aber viele kleine Handwerksbetriebe haben Existenzangst und fürchten, dass sie durch die Ein-Euro-Jobber weitere Aufträge verlieren“, so Nöthe. Die Sorgen sind in der Paga bekannt. „Die Lage in Potsdam ist aber viel besser als in anderen Kommunen“, sagt Paga-Geschäftsführer Frank Thomann. Neben dem System, jeden Antrag von den Kammern prüfen zu lassen, sei ein Außendienst-Mitarbeiter für die Kontrolle vor Ort abgestellt. Dieser würde unangemeldet bei den Trägerbetrieben nachsehen, ob die Ein-Euro-Jobber so eingesetzt würden, wie es in dem Antrag vorgesehen war. Dazu würde sowohl mit den Ein-Euro-Jobbern als auch mit den regulär Beschäftigten gesprochen. „Bei den vier Prüfungen bisher ist alles glatt gelaufen“, sagt Thomann. Nun hätte sich aber auch ein Teilnehmer gemeldet, der sich an seiner Stelle falsch eingesetzt fühle. „Da gehen wir jetzt natürlich hin“, sagt Thomann. Von 45 bis 50 solchen wahrscheinlichen Missbrauchsfällen in Brandenburg hat Detlef Baer gehört, der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbunds der Region Mark Brandenburg. Über eine Umfrage auf der Homepage seines Regionalverbands können Internet-Nutzer auf falsch eingesetzte Ein-Euro-Jobber hinweisen. Baer wirft den Kommunen vor, nicht mehr Bezahlbares mit dem Status der „Zusätzlichkeit“ zu deklarieren. „Durch die Ein-Euro-Jobs fallen Arbeitsplätze weg“, so Baers Fazit. Sein Kollege Günther Fuchs, Landesvorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, vermisst ebenfalls eine genaue Definition des Begriffs Zusätzlichkeit, besonders nach dem Kommunen, Land und Bund schon seit Jahren stetig weniger Leistungen anbieten könnten. Wenn etwa Ein-Euro-Jobber als Begleitung für Kinder zum schwimmen lernen arbeiten sollen, sei das unakzeptabel. „Wir müssen schon den Anfängen wehren, dass Kürzungen nachträglich mit dem Argument der Zusätzlichkeit wieder abgefangen werden können“, sagt Fuchs. Doch wo beginnt eigentlich diese Zusätzlichkeit? Ist es zusätzlich, wenn ein Ein–Euro-Jobber den Kinderveranstaltungsplan der Stadt unter www.hastnplan.de im Internet betreut? Oder wenn zwei Euro-Jobber im Kinderclub „Unser Haus“ am Bisamkiez die Wandtapeten vor der Renovierung mit entfernen oder später den Einbau der neuen Küche mit übernehmen? Die Jobber sollen dabei den Eigenanteil des Kinderclubs an der Renovierung erbringen. „Sonst müssten diese Arbeiten unsere pädagogischen Mitarbeiter machen, so haben wir hier Leute aus dem Schlaatz, die etwas für ihren Stadtteil tun können“, sagt Ute Parthum, die Leiterin des Clubs. Ein anderes Projekt für 20 jugendliche Ein-Euro-Jobber läuft seit dem 1. April am Kirchberg in Neu Fahrland. Dort räumen 20 Jugendliche den Wald auf und streuen zerhäckseltes Holz auf die Wege, „machen alles ein bisschen schicker“, wie Steffen Lerche sagt, der Niederlassungsleiter der Gesellschaft für berufliche Aus- und Weiterbildung mbH, die Träger der Maßnahme ist. Das Projekt ist mit dem Ortsbürgermeister von Neu Fahrland und dem Oberförster abgesprochen. Vier Stunden pro Tag arbeiten die Jugendlichen, ein Tag pro Woche gehört der Qualifikation, wo sie berufliche Theorieausbildung und praktische Tipps für Bewerbungen erhalten. „Sie bekommen wieder das Gefühl vermittelt, irgendwo helfen zu können“, sagt Lerche. Einer der Kirchberg-Jobber ist René Panzer. Der 23-Jährige hofft, nach den drei Monaten Arbeit einen so genannten Kettensägenschein erwerben zu können. Das neue System mit den Ein-Euro-Jobs findet er „besser als vorher“, weil der arbeitslose Tiefbaulehrling sich damit weiter qualifizieren kann. René Panzer sagt: „Wir machen hier keine Sklavenarbeit.“

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