Landeshauptstadt: „Doch, wir sind stolz“
117 000 Potsdamer durften am Sonntag wählen, auch Meinungsforscher waren vor den 110 Wahllokalen
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117 000 Potsdamer durften am Sonntag wählen, auch Meinungsforscher waren vor den 110 Wahllokalen Wenn es für einen Bundestagswahl-Sonntag nicht vielleicht der falsche Begriff wäre könnte man sagen, es herrscht „Kaiserwetter“: Warme Sonnenstrahlen erleuchten das Potsdamer Oberstufenzentrum Johanna Just, bei marine-blauem Himmel nutzen die Bewohner der Berliner Vorstadt den Vormittagsspaziergang zahlreich, um in einem der beiden darin befindlichen Wahllokale ihre Stimme abzugeben. Empfangen werden sie entweder von einer freundlichen alten Dame, Ute-Helene Hamann, die bereitwillig erklärt, dass die Wahlbeteiligung heute wirklich hoch ist. Oder sie nimmt ein kleiner, untersetzter und wenig freundlicher Herr in Empfang, der für Journalisten pflichtschuldigst nur einen Satz übrig hat: „Keine Information“ – den dafür aber gleich mehrmals. „Ich wusste schon vorher, welche Partei ich wähle“, erzählt vor der Tür Brigitte Becher, die gerade mit ihrem Mann aus dem Wahllokal kommt. Drei Mal hätten sie nun schon keine Rentenerhöhung bekommen, sagt sie, und vermutlich kämen wohl noch weitere Einschnitte hinzu. Alles wird teurer, wenn man sechs Enkel und drei Urenkel hat, da könne man nicht mehr immer die ganz großen Geschenke machen, sagt sie und wirkt dennoch nicht unfroh. Der liebe Wettergott muss ein Demokrat sein – bei soviel Sonnenschein. Doch auf der Fahrt in Richtung Innenstadt fällt eine elektronische Anzeigentafel ins Auge. Sie verrät, dass der 18. September auch Tag des deutschen Wetterdienstes ist. Das könnte auch eine Erklärung für den herrlichen Spätsommertag sein. Am Stadtkanal, am Pfeiler mit der Nummer 148, gesponsort von einem Chefarzt und seiner Gattin, steigt leicht- kloakesker Geruch auf. Mühevoll kämpft eine Fontänen-Pumpe mit der Brühe, um 11.30 Uhr erklingt das Glockenspiel der Garnisonkirche. An der Holztür der Dortu-Schule klebt ein Zettel: „Zum Wahllokal bitte den Eingang Bäckerstraße benutzen“. Es sind nur ein paar Schritte, vorbei an der Gedenktafel für Max Dortu, ein „Kämpfer und Opfer für Deutschlands Einheit und Freiheit“, wie zu lesen ist. Vor der Tür zum Klassenzimmer mit dem Alphabet an der Wand, in dem es nun jedoch nicht um Buchstaben sondern Kreuzchen geht, sitz Gabriele Bergner, eine promovierte Historikerin, die freiberuflich für das Meinungsforschungsinstitut Forsa arbeitet. Jeden achten Wähler befragt sie nach seinem Votum. Zu ganz bestimmten Zeiten gibt sie ihre Ergebnisse telefonisch zu Forsa durch, die in die 18-Uhr-Prognose einfließen. Gisela Schmidt ist die achte Wählerin. Nachdem sie Forsa Auskunft erteilt hat, sagt sie gern, worum es ihr bei dieser Wahl ankommt. „Ausschlaggebend ist für mich die Ablehnung des Irak-Krieges durch Schröder“. Sie glaubt, unter einer CDU-Regierung würden jetzt Bundeswehrsoldaten zwischen Euphrat und Tigris kämpfen müssen. Auch möchte sie, dass „es sozial nicht völlig umkippt“. Zudem: „Joschka Fischer ist für mich ein fantastischer Außenminister.“ Auf dem Weg zum Eingang der Voltaire-Schule kommt ein junger Vater mit seinem Sohn entgegen. Er erklärt dem Jungen, was Parteien und Wahlen. Vor dem Klassenzimmer, dass an diesem Sonntag ein Wahllokal ist, küsst sich ein Liebespaar. „Wünsch mir Glück“, sagt sie und geht hinein. Er wartet. Sein Name ist Joachim Scholz, seine Stimme hat er bereits in der Friedrich-Ebert-Straße abgegeben. Die beiden wohnen nicht zusammen. Er muss lachen, als er gefragt wird, ob seine Freundin Erstwählerin sei. „Da wird sie sich ja freuen“. Nein, sagt er, „wir haben schon manche Wahl miteinander bestritten“. Als Franziska Timm wieder zurück ist, gibt es ein Küsschen für ihren Schatz, dann erklärt sie, dass sie frisch verliebt waren, als sie zum ersten Mal zur Wahl gegangen sind. Deshalb sei es bei jeder Wahl immer noch etwas aufregender als es ohnehin wäre. Aber auch politisch habe sie ein Wahlmotiv: Sie wolle helfen, Angela Merkel zu verhindern. In Sacrow werden Parlamente zwar noch nicht ins Schloss gewählt, wie vielleicht eines Tages bei brandenburgischen Landtagswahlen, aber immerhin schon in einem Schloss. Vor dem herrschaftlichen Schloss Sacrow stehen Helga Ewert und Carola Böckencamp und genießen die Sonne. Über Mittag kommt niemand vorbei, erst nach dem Essen gehe es weiter. Doch die Hälfte der Sacrower Wähler waren ohnehin schon da. „Super“, findet das Helga Ewert. Viele Wähler hätten sehr genau gewusst, wie sie wählen wollten. Alles sei bis dato harmonisch und unaggressiv abgelaufen. Sie selbst arbeite ebenso wie Helga Böckenkamp bei der Stadtverwaltung. Doch auch ein Sacrower gehöre zum örtlichen Wahlhelfer-Team. Es ist Günter Voegele. Vor Jahren sprang er mal kurzentschlossen für einen anderen Wahlhelfer ein, der um acht Uhr nicht im Wahllokal erschienen war. Ein Anruf auf sein Handy klärte seinen Verbleib auf. Er saß gerade in Italien auf einer Hotel-Terrasse und hatte vor Freude über den Urlaub den Wahltermin glatt vergessen. Seitdem ist Voegele immer dabei, wenn es gilt, im Sacrower Schloss Parlamentarier zu wählen. Im Raum 3 der Eisenhart-Schule in der Kurfürstenstraße hat gerade ein Paar gewählt. Arm in Arm streben sie nach der Wahrnehmung ihrer demokratischen Pflicht dem Ausgang entgegen. Ob er sein Kreuz an der richtigen Stelle gemacht hat? „Tja“, antwortet er, „in einem halben Jahr sind wir schlauer.“ Beide hätten sich die Wahlentscheidung nicht einfach gemacht und viel vorab diskutiert. Sie waren auf der SPD-Wahlveranstaltung im Lustgarten. Platzeck, sagen sie, „hat uns sehr gefallen“. Für sie ist es die erste Wahl, erst seit kurzer Zeit ist sie deutsche Staatsbürgerin. Ursprünglich stamme sie aus der Ukraine. Nie habe sie sich vorher für Politik interessiert. Jetzt aber sei sie stolz, gewählt zu haben. Er will noch einwenden, na ja, stolz nun nicht gleich, doch sie unterbricht ihn liebevoll drückend. „Doch, wir sind stolz.“ Russen, sagt sie lachend, seien nun ’mal emotionaler als Deutsche. In der Villa Grenzenlos in Babelsberg hat Wilhelm Dückers den Hut auf. Er trägt einen Rollkragenpullover und ist trotz des Sonnenwetters froh darüber. Es sei kalt im Wahllokal, die Villa Grenzenlos erfahre gerade einen Trägerwechsel, da werde nicht geheizt. Er hofft, dass die Stimmen am Abend zwischen acht und neun Uhr ausgezählt sein werden. „Beim Zählen herrscht eine besondere Anspannung“ sagt er, „weil man weiß, was auf dem Spiel steht“ – insbesondere bei knappen Wahlausgängen zähle jede Stimme. In der Grundschule am Pappelhain bringt ein junger Mann seine Mutter zum Abgeben ihrer Stimme. Wenn es zur politischen Wende komme, dann gehe es sozial weiter bergab, befürchtet er. Er glaubt, dass es zu einer großen Koalition kommen werde, „dann müssen alle mitziehen“, so seine Worte. Zwei jugendliche Erstwähler monieren, dass es im Wahllokal „nicht ’mal Kuchen gab“. Aber vielleicht wollen sie sich auch nur lustig machen über den heiligen Ernst der Sache. Da kommt Anne Barnack auf den Schulflur, sie begleitet einen Freund zur Wahl. Als Erstwählerin hat sie selbst ihre Stimme bereits in Stahnsdorf abgegeben. Auch nahm sie an der Juniorwahl teil, die schon per Knopfdruck und Computer erfolgte. Dass die Wahlweise der Erwachsenen noch so traditionell per Wahlschein erfolge, habe sie Verständnis. Per Computer, dass „ist noch keine sichere Sache“, denkt sie. In ihrer Abiturklasse hätten sie viel über die Wahl diskutiert. Sie selbst sei nicht zufrieden „mit dem, wie es jetzt ist“. Sie glaube aber auch nicht wirklich an die Alternativen.
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