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PNN-Serie: Studium anno 1958: Dramatische Szenen und Ohren für den Klassenfeind

Studium Ende der 1950er-Jahre bedeutete nicht nur diszipliniertes Lernen, sondern auch Albereien von Niveau.

Stand:

Josef Drabek, 1939 in Böhmen geboren, studierte von 1958 bis 1962 an der Pädagogischen Hochschule Potsdam, dem Vorläufer der heutigen Potsdamer Universität. Derzeit schreibt Drabek seine Erinnerungen „Von Böhmen nach Brandenburg. Wege zwischen Weltkrieg und Wende“, der erste und zweite Teil liegt vor. Der dritte Teil zu Brandenburg beginnt mit der Studienzeit. Auszüge daraus erscheinen in den PNN.

Zu unserem unbeschwerten Studentenleben gehörten nicht nur alberne Alltagsspäße (PNN vom 28.09.2016), sondern auch ansprechendere Albereien. Das war etwa der Fall, wenn Kommilitone „Most“ am Sonntagmorgen das Schlafraumfenster aufriss und Richtung Kleingartenkolonie den Sprechgesang anstimmte: „Ich grüße Dich, o Tag!“ – und das in vielen Variationen. Mitunter sprang er wieder ins Bett, um einen Rennfahrer zu imitieren: mit hochgestelltem Kopfkissen als Rückenlehne und zusammengerollter Bettdecke als Motor, auf- und abschwellendem Heulen sowie imaginärem Schalten und Lenken. Dazu legte sich der „Pilot“ theatralisch in die „Kurven“, bis es zu einem von lautem Schrei begleiteten „Crash“ kam.

Ähnlich pantomimisch gestalteten wir im Waldweg gegenüber der Forststraße gestellte Fotos. Dazu zählten martialische mittelalterliche Bilder wie „Most am Marterpfahl“ oder „Henker Saran bei der Arbeit“. Lockerer fielen „Graf Silvester und Diener Johann“ aus, bei der ich den Domestiken imitierte, die jugendstilartige Begrüßung, das „fröhliche Triumvirat“ und der „Start zum Rollerrennen“. Den Ausklang bildeten das „Dirigat eines Duetts“ und die „Musikparade“.

Neben solcher stummfilmartigen Inszenierung deklamierten wir, angeregt durch Literaturstudium und Theaterbesuche, gern dramatische Miniszenen. Beliebt war die des Götz von Berlichingen, der dem kaiserlichen Trompeter den Satz zuschrie: „Sag deinem Hauptmann: Vor Ihro Kaiserliche Majestät hab ich, wie immer, schuldigen Respekt. Er aber sag’s ihm, er kann mich ---. Statt der drei Auslassungsstriche für die Schulausgabe ging es laut Urfassung weiter: „im Arsch lecken“. Darauf folgte der jeweilige „Mime“ im wahrsten Sinne des Wortes der Regieanweisung: „Schmeißt das Fenster zu“. Erstaunlich, dass unser holzgerahmtes, dünnglasiges Doppelfenster diesem Zuschmiss standhielt.

Anregung für eine Hitlerparodie kam nach dem Besuch von Brechts „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ mit Ekkehard Schall in der Hauptrolle. Davon ausgehend scheitelte ich mein dunkles Haar, hielt einen schwarzen Kamm als Schnurrbart unter die Nase und deklamierte mit kehliger Stimme des „Führers“ zweideutigen Satz: „Da habe ich erkannt, dass mir keiner gewachsen ist, und beschloss, Politiker zu werden.“ Die Mitbewohner hatten ihre Gürtel zu Schulterriemen umfunktioniert, hoben den rechten Arm und riefen „Heil!“. Wohl war uns dabei nicht, weil solche Darbietung natürlich hätte leicht missdeutet werden können.

„Völkisch“ gesungen wurde bei dieser Vorstellung glücklicherweise nicht, obwohl Musik sonst eine große Rolle spielte. Dank Richards kleinem Radioapparat Marke „Audion“ konnten wir große Musik aus Ost und West hören. Dazu zählte die von mir präferierte Rätselsendung des DDR-Rundfunks „Was von wem, warum von dem“, in deren Ergebnis ich zwei Preise gewonnen habe: das in dritter Auflage erschienene Buch vom Musikwissenschaftler Walther Siegmund-Schultze „Georg Friedrich Händel“ und ein Kleinradio „Sonneberg“, das jahrelang die Küche meiner Eltern beschallte.

Favoriten waren die ab 1958 ausgestrahlte „Hitparade“ von Radio Luxemburg und „Schlager der Woche“ von RIAS Berlin. Obwohl wir auf Zimmerlautstärke schalteten, sprach mich ein Heimbewohner darauf an, dem ich überzeugend erklärte, dass dies ein DDR-Sender ist und er Ärger bekäme, wenn er anderes erzählt. So kam glücklicherweise unser „Ohr für den Klassenfeind“ nicht zur Sprache und keiner zu Schaden. Das hätte aber sein können, denn ab 1959 gab es harte Diskussionen dazu und die Ankündigung des Rektors, Disziplinarmaßnahmen gegen Westhörer einzuleiten.

Musik war für uns aber nicht nur passiv, sondern auch aktiv wichtig. So spielten Richard auf der Gitarre und ich mit der Blockflöte gemeinsam ein leierkastenartiges Lied, dem der Text über ein kleines Paddelboot zu Grunde liegt. Und beim Blechbläserduo auf dem Dachboden intonierten Helmuth auf der Posaune und ich auf dem Flügelhorn ein C-Dur-Repertoire zwischen „An der Saale hellem Strande“ und „Ein’ feste Burg ist unser Gott“, bis Hausmeister Lehmann erschien und energisch forderte, das „Gedudel“ einzustellen, worauf wir mit einem gezischten „Banause“ die Konzertstätte verließen.

Besser und breiter waren wir a capella aufgestellt. Neben der HSG-Fußballhymne kamen gängige Gesänge aus Opern zu Gehör. Bass belastet stimmte ich das Trinklied des Falstaff an und mit Tenor Richard zusammen „Wie freu ich mich“. Als Gaudium gab es das Duett Don Giovanni/Zerlina, bei dem „Most“ falsettartig die Frauenstimme übernahm. Großen Spaß bereitete die Singschule des Bürgermeisters van Bett, über die Richard in einem Erinnerungslied schrieb: „Wir hatten auch den Jupp dabei, aus der Weißenfelser Eck’, beim Singen von ,Zar und Zimmermann’, da bracht ihn keiner weg.“ Und nur selten fehlte das alte Studentenlied: „Gaudeamus igitur juvenes dum sumus“. Zu Deutsch: Also lasst uns fröhlich sein, solange wir noch jung sind.

Josef Drabek

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