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Homepage: Ein emotionsgeladener Begriff
Der Historiker David Ruderman über Ghettos in der jüdischen Geschichte
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Wer hat bei dem Wort „Ghetto“ schon positive Assoziationen? Insbesondere seit der Judenverfolgung durch die Nationalsozialisten ruft dieses Wort traurige Bilder hervor. Die von den Nationalsozialisten vor allem in Polen und Osteuropa errichteten Ghettos waren Zwischenstationen auf dem Weg in die Vernichtungslager. Geradezu provozierend wirkt deshalb die Annahme, dass Ghettos auch positive Auswirkungen auf das Judentum haben könnten. In der Ringvorlesung über die „Geschichte der Juden in Italien“ am Institut für Jüdische Studien an der Universität Potsdam beschäftigte sich David Ruderman, Professor für Moderne Jüdische Geschichte an der Universität Pennsylvania, mit genau dieser Frage.
„Sind Ghettos gut oder schlecht für Juden?“, fragte der US-Wissenschaftler in der diesjährigen „Emil Fackenheim Lecture“, mit der das Abraham Geiger Kolleg dem 2003 verstorbenen jüdischen Religionsphilosophen gedenkt und gleichzeitig David Ruderman als Wissenschaftler ehrt. Ruderman ist Autor zahlreicher Bücher über jüdisches Denken und modernes Judentum. Er leitet seit 17 Jahren das Herbert D. Katz Center for Advanced Judaic Studies an der Universität Pennsylvania und wurde 2001 von der National Foundation for Jewish Culture für sein Lebenswerk geehrt. Derzeit arbeitet er als German Transatlantic Program Fellow der American Academy in Berlin an einem neuen Buch.
Ruderman ist sich bewusst, dass „Ghetto“ ein emotionsgeladener Begriff ist. In den USA werde er vorwiegend mit dem Wort Isolation in Verbindung gebracht. Die Realität in Venedigs erstem Ghetto, das im Jahr 1516 errichtet wurde, sei jedoch eine andere gewesen, so Ruderman. Auch in den folgenden Jahrzehnten und Jahrhunderten sei es den italienischen Juden trotz Ausgrenzung und Bedrängung gelungen, eine lebendige jüdische Kultur zu entwickeln. Einen Einschnitt für das jüdische Leben bedeutete die Amtszeit von Papst Paul IV., der 1755 verfügte, dass Juden ausschließlich in Ghettos leben mussten.
Fast jede größere italienische Stadt hatte ihr eigenes Ghetto. Doch seien deren jüdische Bewohner den kulturellen Angeboten, Lebensweisen und Vergnügungen der christlichen Nachbarn gegenüber immer offen geblieben. Die Ghettos seien von den italienischen Juden auch als „Rückzugsorte vor der dunklen Realität“ geschätzt worden und hätten die mystischen Traditionen des Judentums belebt. Manch religiöse Zeremonie habe sich durch das Vorbild der katholischen Nachbarn von einer ausgelassenen Feier erst zu einer solchen entwickelt, so Ruderman.
Als Beispiele für die sich gegenseitig befruchtende Wirkung der Kulturen führte Ruderman die Werke des italienisch-jüdischen Komponisten Salomone Rossi an. Sie erinnerten an barocke Kirchenmusik. Auch die beeindruckenden Schriften der venezianischen Rabbiner Simone Luzatto und Leone de Modena wären ohne die Thematik der Ghettos so nicht entstanden. Zwar wolle er die mittelalterlichen jüdischen Ghettos in Italien nicht romantisieren, betonte der Wissenschaftler, aber man könne sie auch als Zufluchtsorte betrachten, die den Juden einen engen Kontakt mit der nicht-jüdischen Umwelt ermöglichten. Ruderman: „Diese enge Beziehung zur christlichen Umgebung war ein interessanter Moment in der jüdischen Geschichte.“ Maren Herbst
Morgen spricht Hanna Serkowska (Uni Warschau): „From Hungary to Italy and back. Edith Bruck between ,Liquidation’ (Imre Kertesz) and Commemoration (Primo Levi), 12 Uhr, Uni Potsdam, Am Neuen Palais 10, Haus 9, Raum: 1.09.1.14
Maren Herbst
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