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Wilhelm Fraenger in Päwesin, Brandenburg und Potsdam: Zum 40. Todestag des Potsdamer Kunsthistorikers und Volkskundlers

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Wilhelm Fraenger in Päwesin, Brandenburg und Potsdam: Zum 40. Todestag des Potsdamer Kunsthistorikers und Volkskundlers Nach drei Jahren Schillertheater wird Wilhelm Fraengers Berliner Wohnung ausgebombt. Er flüchtet mit Ehefrau Gustel nach Päwesin, einem Dorf bei Brandenburg. Dort bezieht er eine alte Ziegelei und vertieft sich in seine Forschungen zu Hieronymus Bosch. Fern von allen Bibliotheken und noch ferner von der Aussicht, die Originale begutachten zu können, vertieft er seine Methode meditativer Versenkung in eine ihm vorliegende Abbildung, bis sich neue Erkenntnisse ergeben. Das erste Bosch-Buch des Potsdamer Kunsthistorikers und Volkskundlers Wilhelm Fraenger (1890-1964), dessen 40. Todestag sich morgen jährt, erscheint 1947 unter dem erstaunlichen Titel „Das tausendjährige Reich“. Fraenger bezieht sich dabei auf die eschatologischen Entwürfe des Joachim von Fiore und setzt ihn bewusst dem nationalsozialistischen Terminus entgegen, wie er seinem Verleger Otto Dickschat schreibt: „Da sich aber das ganze Denken dieser mittelalterlichen Sekten um das tausendjährige Reich gedreht hat, wäre es m.E. am besten, dies auch schon im Titel zu deklarieren, zumal Bosch 450 Jahre älter ist als Adolf Hitler und demnach wohl beim besten Willen mit dessen 12-jährigem Reich nicht verwechselt werden kann.“ Doch bevor Fraengers Manuskripte Druckreife gewinnen, erlebt Fraenger mit seiner Frau Gustel das Kriegsende, in das er unvermutet in seinem 350-Seelen-Dorf manifest verwickelt wird. Er schildert dies ausführlich in einem Brief an Heinrich George: „Mich hat die KPD hier eingesetzt, allerdings gab“s vorher allerhand zeitgemäße Irrungen und Wirrungen, bei denen ich, wieder in alter Anhänglichkeit, diesmal auf Deinen Spuren wandelte. Nämlich auch ich war wochenlang eingesperrt gewesen und das kam so: Meine verwünschte Ziegelei wurde am 3. Mai plötzlich zum Kriegsschauplatz. Deutsche Panzer rollten an, gleich drauf wahre Ungeheuer von russischen Donnerkästen. Bei dieser Gelegenheit wurde ich in meiner Eigenschaft als Besitzer von Mobiliar, Garderobe, Büchern u.s.w. total annulliert, überdies geriet ich in russische Kriegsgefangenschaft, war zuerst mit einem Trupp von Deutschen und Wlassow-Leuten in Niebede eingesperrt, dann 4 Wochen lang in Rathenow. Na, ich hab“s überstanden, aber ein vorderer Schneidezahn ging dabei in Verschrott und eine in der Nähe angebrachte Brücke wurde höchst wackelig." Fraenger, der sich bis dahin jeglicher parteipolitischer Vereinnahmung fern gehalten hatte, tritt der KPD bei und wird im September 1945 Bürgermeister von Päwesin. Er genoss dadurch vor allem den Vorteil, seine ihm unverzichtbare, requirierte Schreibmaschine wieder zu erhalten. In seinem neuen Amt hat er im wesentlichen mit den großen Flüchtlingsströmen zu kämpfen. Zunächst verdoppelt sich die Zahl der Einwohner lediglich; dann bekommt er allerdings die Anweisung, 25 000 Flüchtlinge unterzubringen. Ein halbes Jahr später wird Fraenger zum Stadtrat für Volksbildung der Stadt Brandenburg ernannt. In diesem Amt ist er mit der Säuberung der öffentlichen Bibliotheken von nationalsozialistischen Büchern betraut. Seine große Erfahrung in der Reorganisation des Bibliothekswesen, wie er sie in Mannheim als Bibliotheksdirektor sammeln konnte, kamen im nun zu Gute. Er sammelt die alten Bestände, u.a. der Akademie-Bibliothek und des Historischen Vereins und legt damit den Grundstock für eine wissenschaftliche Bibliothek mit Lesesaal und Präsenzbibliothek. Seine umtriebigen Aktionen schaffen ihm nicht nur Freunde, auch innerhalb der Partei gibt es Konkurrenz, die ihn immer wieder zu denunzieren versucht. Wiederum ein halbes Jahr später wird Fraenger zum Leiter der Volkshochschule Brandenburg und Vorsitzenden des Brandenburger Kulturbundes ernannt. Mit Ersterem steht er nun seiner eigenen institutionellen Schöpfung vor, denn als Leiter des Volksbildungsamtes richtete er im Juni 1946 die Volkshochschule als „Akademie für Jedermann“ ein. Mit diesem Titel lehnt er sich bewusst an die von Fritz Wichert in Mannheim begründete „Akademie für Jedermann“ im „Freien Bund“ an, wo Fraenger selbst des öfteren Vorträge gehalten hatte. Sein Konzept sieht eine duale Struktur der Akademie vor. Bevor als Schwerpunkt komplexere Probleme der Literatur und Kulturgeschichte behandelt werden, soll der erste Teil Grundkenntnisse in deutscher Rechtschreibung, Mathematik und Stenographie vermitteln. Fraenger bringt in der frühen Nachkriegszeit sehr viel Energie auf, um seine Vorstellung einer gesellschaftlichen Erneuerung durch kulturelle Bildung zu verwirklichen. Trotzdem gibt er sein Amt als Direktor der Volkshochschule im Sommer 1947 wieder auf. Einerseits hat er einen Ruf von Kurt Raeck, dem Intendanten des Berliner Renaissance-Theaters, erhalten, dort ab Juni 1947 wieder als künstlerischer Beirat zu fungieren, zum anderen ist inzwischen ein Parteiausschlussverfahren gegen ihn eingeleitet worden, das erfolgreich darauf zielte, ihn seines öffentlichen Amtes zu entheben. Fraenger trauert der Volkshochschule nicht nach, denn die neue Tätigkeit in Berlin hat den unschätzbaren Vorzug, dass er für Fahrten nach Berlin den Autobus benutzen darf. Und nur in Berlin kann er an die für ihn so unerlässlichen Quellen und Literatur gelangen. 1952 zieht Fraenger nach Potsdam und baut maßgeblich das Institut für Volkskunde an der Akademie der Wissenschaften mit auf. Der Plan, Fraenger zum Direktor des Museums für Volkskunde zu machen, scheitert nach längeren Verhandlungen. Statt dessen wird er 1954 stellvertretender Vorsitzender des Instituts und bestimmt die Entwicklung des Instituts in dieser Funktion wesentlich. Im Rückgriff auf sein in den Zwanziger Jahren gegründeten „Jahrbuch für historische Volkskunde“ richtet er das „Deutsche Jahrbuch für Volkskunde“ ein und betreut es über Jahre redaktionell. Es findet ebenso großen Anklang und weckt ebenso intensives wissenschaftliches Interesse wie das alte Jahrbuch. Seit 1960 gibt das Institut darüber hinaus ein Referate-Organ heraus: „Demos“, das unter Berücksichtigung des ganzen osteuropäischen Raums den Wahrnehmungsradius westeuropäischer Forschung erheblich erweitert. Fraenger schifft das Institut sicher durch die Fährnisse des Kalten Krieges und ist verantwortlich für die hohe Qualität der Forschung und sein internationales Renommee. Sein Tod am 19. Februar 1964 setzt auch eine Zäsur in der Geschichte des Instituts. Es sinkt unaufhaltsam in die Bedeutungslosigkeit und wird kurze Zeit später dem Institut für Geschichte einverleibt.Petra Weckel

Petra Weckel

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