zum Hauptinhalt

Landeshauptstadt: Ein Wildschwein zur Hochzeit

Heute vor 65 Jahren haben Renate und Eberhard Schlosser in der Erlöserkirche geheiratet

Stand:

Dass er Heiligabend 1944 in Russland verwundet wurde – Eberhard Schlosser hebt seinen linken, vernarbten Arm zur Illustration – das war sein Glück, sagt seine Frau Renate. Ihr beider Glück – sonst würde es sie so nicht geben. Im Lazarett in Potsdam flickte man den jungen Mann damals wieder zusammen, und während die meisten seiner Kameraden den Krieg nicht überlebten, musste er nicht zurück an die Front.

Am heutigen Mittwoch ist es 65 Jahre her, dass Renate, geborene Schmidt, und Eberhard Schlosser in der Erlöserkirche heirateten. Sie in einem geborgten Brautkleid – was Eigenes war 1949 nicht so einfach zu bekommen. Er trug einen Smoking, „den hat er noch heute“, sagt seine Frau. Auf dem Foto hält der stattliche Ehemann sogar einen Zylinder in der Hand. „Das musste einfach sein, auch wenn er ihn nie aufgehabt hat.“

Wenn die Eheleute Schlosser aus ihrem langen gemeinsamen Leben erzählen, ist das wie ein Querschnitt durch die Deutsche Geschichte – zwei Menschen zwischen Krieg, Vertreibung und Diktaturen, die zusammenfanden und bis heute wie zwei feine Rädchen ineinander greifen. Sie haben zusammen gelebt und gearbeitet, zwei Kinder bekommen, Enkel, Urenkel. Vor fünf Jahren kam zur Diamantenen Hochzeit die ganze Familie zusammen, man feierte in der Begegnungsstätte des Wohngebiets Auf dem Kiewitt. In diesem Jahr ist eine kleinere Runde geplant. Für die Eheleute – Renate ist 84, Eberhard 92 Jahre alt – ist alles mittlerweile etwas anstrengend geworden.

Am 10. August 1947 lernen sie sich bei einer Kindstaufe in Sassnitz auf Rügen kennen, beide sind Paten. Zwei Tage später macht Eberhard der damals 17-Jährigen bei einem Strandspaziergang einen Heiratsantrag. Er habe sofort gewusst, das ist die Frau für ihn, sagt er. Seine Renate sah das damals etwas nüchterner. „Also nein, ich war doch viel zu jung“, sagt sie rückblickend und leicht entrüstet. Aber man schreibt sich Briefe zwischen Potsdam, Eberhards Heimatstadt, und Jena, wo sie, das Flüchtlingskind aus Stettin, in der Frauenfachschule eine Ausbildung zur Wirtschaftsleiterin absolvierte. Ein Jahr später im August ist Verlobung, und als Eberhard seinen Elektromeister in der Tasche hatte und Renate ihren Abschluss, wird Hochzeit gefeiert. „Der August ist ein guter Monat“, sagt Renate Schlosser.

In Potsdam gibt es am 20. August 1949 sogar eine Doppelhochzeit beider Schlosser-Söhne. Gar nicht so einfach sei das alles gewesen, erzählen die Jubilare. Für die standesamtliche Trauung braucht sie ein Kostüm. Mit der Kleiderkarte der Großmutter kann sich Renate zumindest Stoff kaufen. Auch die Beziehungen über die Elektrowerkstatt der Schlossers helfen. Kunden aus Werder schicken Obst für Kuchen, ein Fleischer besorgt sogar ein Wildschwein. Gefeiert wird in der Fünf-Zimmer-Wohnung einer Nachbarin, die lange Tafel reicht durch mehrere Zimmer – durch die weiten Flügeltüren hindurch. „Wir hatten eine wunderschöne Hochzeit“, schwärmt Renate Schlosser. Doch jenes große Mietshaus Am Kiewitt, Eigentum der Schlosser-Familie, im Krieg unversehrt geblieben, steht heute leider nicht mehr, erzählen sie mit Bedauern. In den 70ern musste die Familie zwangsverkaufen, weil die DDR dort neue Plattenbauten hinsetzen wollte. 3000 Mark wurden dafür jedes Jahr an die Familie ausgezahlt, so die Schlossers nüchtern.

Die jungen Leute ziehen also in die Siedlung rund um den Schillerplatz. Erst in eine winzige Wohnung, doch die Familie wächst, und irgendwann klappt es auch mit einer Wohnung mit zwei Kinderzimmern. „Wir hatten ja einen Jungen und eine Tochter – also ein kleines Problem“, erläutert Renate Schlosser.

Die Familienfrau steigt fest in die Elektrowerkstatt der Familie ihres Mannes ein, ein großes Geschäft mit zwölf Angestellten. Sie macht die Buchhaltung, hilft im Verkauf. Zusammen zu arbeiten, das sei ganz wunderbar gewesen, sagt sie. Im Sommer fahren sie mit den Kindern nach Sassnitz, sie lieben die Ostsee. Und hin und wieder hat das Paar Zeit für sich. Eberhard fährt Motorrad, vor dem Mauerbau schaffen sie es mit der EMW sogar bis nach Moers. „Die Maschine war gut, ein Original-Nachbau der BMW“, schwärmt Eberhard. An diese Fahrt nach Moers zu ihrem Vater hat Renate weniger gute Erinnerungen. „Es regnete in Strömen, wir wurden so nass!“ Vor einiger Zeit hat sie begonnen, ihre Erinnerungen aufzuschreiben, auch von ihrer Mutter existiert noch ein Tagebuch in sorgfältig handbesticktem Einband, alles in feinem Sütterlin beschrieben. Ihre Enkel interessieren sich dafür, sagt Renate Schlosser, aber lesen können sie es nicht mehr.

Das Wohnzimmer ist mit vielen Familienfotos dekoriert, dazwischen einige Trophäen, Raubfische, richtige Prachtburschen, die Hobbyangler Eberhard aus der Havel zog oder aus Norwegen mitbrachte. Heute gehen sie bisweilen am Havelufer spazieren und freuen sich, dass sie einigermaßen gesund sind. Aus ihrer Wohnung in der Siedlung wollen sie nicht mehr weg, auch wenn die Treppe in den ersten Stock beschwerlich ist. „Höchstens noch einmal umziehen, über die lange Brücke“, sagt Eberhard mit trockenen Humor. Renate findet das nicht so witzig. „Wir sind rundum glücklich“, fasst sie zusammen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })