zum Hauptinhalt

Landeshauptstadt: Eine Chrysantheme zum Gedenken

Konfirmanden putzten am Samstag Stolpersteine, darunter auch den des Potsdamer Bankiers Wallich. Er starb heute vor 75 Jahren

Stand:

Innenstadt - Eine Gruppe von Menschen ohne Grund nur wegen ihrer Herkunft aus der Gesellschaft auszuschließen und letztlich gar zu töten – für den 14-jährigen Béla ist das heutzutage „völlig unvorstellbar“.

Belá ist einer der Konfirmanden der Friedens- und der Nikolaikirchengemeinde, die sich zum 75. Jahrestag der sogenannten Reichspogromnacht am vergangenen Samstag eine ganz besondere Aufgabe gestellt hatten: Sie putzten die insgesamt 25 im Stadtgebiet verlegten Stolpersteine, mit denen an Potsdamer erinnert wird, die von den Nationalsozialisten verfolgt wurden. Die meisten dieser Menschen holte man damals aus ihren Wohnungen ab und verschleppte sie in Konzentrationslager, wo sie ermordet wurden oder unter unwürdigsten Umständen verstarben.

„Eine ,judenreine’ Stadt – was ist das denn?“, fragte sich Belá voller Unverständnis. Gerade hatte er am Stolperstein für Wilhelm Kann vor dem Haus Friedrich-Ebert-Straße 113 davon erfahren, dass Potsdam mit der Deportation des 62-jährigen Wilhelm Kann am 22. Juni 1943 offiziell als „judenrein“ galt.

Heute unvorstellbar, vor über 70 Jahren jedoch Alltag in Potsdam: Juden und andere Menschen, die mit den Nürnberger Rassegesetzen kurzerhand zu Juden erklärt wurden, verschwanden allmählich aus dem Stadtbild. Wie evangelische Christen in Potsdam damals auf die Ausgrenzung und Vernichtung jüdischen Lebens reagierten, untersucht derzeit eine Arbeitsgruppe der evangelischen Kirche, in der unter anderem Garnisonkirchenpfarrerin Juliane Rumpel und Stadtkirchenpfarrer Simon Kuntze mitwirken. Momentan recherchiere man die Archivlage zu diesem Thema, sagte Kuntze den PNN. Die damaligen Reaktionen Potsdamer Christen auf die Judenverfolgung seien bislang wenig erforscht. „Wir wissen’s einfach kaum“, umreißt der Stadtkirchenpfarrer den derzeitigen Erkenntnisstand der Arbeitsgruppe. Kuntze zeigt sich jedoch zuversichtlich, Ende kommenden Jahres mit Ergebnissen aufwarten zu können. Dann werde es eventuell auch eine Ausstellung zu diesem Thema geben. Schon lange bekannt sei, dass es in der Friedenskirche eine starke Strömung der Deutschen Christen gegeben habe, die die Nationalsozialisten unterstützten. In der Erlösergemeinde in der Brandenburger Vorstadt hingegen seien viele Mitglieder eher oppositionell eingestellt gewesen. Dort habe die staatsferne Bekennende Kirche aktiv gewirkt.

Einer der Stolpersteine, die die Potsdamer Konfirmanden am Samstag putzten, erinnert an den Potsdamer Paul Wallich, der in Berlin als Bankier tätig war. Seine Bank hatte er 1938 bereits aufgrund des von den Nationalsozialisten ausgeübten wirtschaftlichen Drucks verkauft. Aber der Verfolgungsdruck erhöhte sich immer weiter. Am 10. November 1938, einen Tag nach der Reichspogromnacht, erschienen Gestapo-Leute an Wallichs Wohnhaus, der Villa Schöningen in der Berliner Straße, und erkundigten sich bei seiner Frau Hildegard nach ihm. Offenbar hatte man vor, ihn an jenem 10. November zu verhaften. Der Bankier hielt sich jedoch zu dieser Zeit in seinem Berliner Büro auf. Dort erreichte ihn ein Anruf seiner Ehefrau, mit dem sie ihren Mann von der Such-Aktion der Nazi-Schergen informierte. Derart seiner Lebensperspektive beraubt, trat Wallich offenbar eine ohnehin geplante Dienstreise ins Rheinland an. Am heutigen Montag vor 75 Jahren, am 11. November 1938, sprang der Bankier in Köln von einer Rheinbrücke in den Tod. Der Deportation war er entkommen, dem sinnlosen Sterben nicht.

Von den Nationalsozialisten wurde Wallich wegen seiner jüdischen Herkunft verfolgt, obwohl er selbst gar kein Jude war, sondern der evangelischen Kirche angehörte. Seine Mutter, die in Berlin eine Hauspflege für mittellose Kranke und werdende Mütter gegründet hatte, war einst als Jüdin zum Christentum konvertiert. Im Sinne der Nürnberger Rassegesetze galt Paul Wallich, der das Berliner Hilfswerk seiner Mutter finanziell unterstützte, dennoch als Jude – und damit als ein zu Entrechtender. Seit Mai dieses Jahres erinnert ein Stolperstein auf dem Fußweg in der Schwanenallee, direkt vor dem Eingang der Villa Schöningen, an Paul Wallich. Bei der Stolperstein-Aktion am Samstag putzten Jugendliche die Messingplatte des Gedenksteins, erinnerten an die Biografie Wallichs und legten eine Chrysantheme neben dem Stein nieder.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })