Landeshauptstadt: Eine Frage der Sicherheit
Die Flüchtlinge kommen aus Kenia, dem Libanon und Russland – der Lerchensteig ist ihre Ersatzheimat
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Sicherheit. Das Flugzeug lag hinter ihr. Und obwohl die Gangway unter den Schritten der Menschen gezittert haben muss, war Sicherheit das erste Wort, das Anne Nduta in den Sinn kam, als sie ihn betrat. Denn der Boden unter ihren Füßen war deutsch, Kenia 6400 Kilometer weit weg. Weit genug, dass sie die Mörder nicht erreichten.
Anne Nduta war Mitglied der Mungiki-Sekte, deren Gangs in Kenia die Menschen terrorisiert. In ihrem Namen sollte sie Mädchen auf der Straße die Hosen und Röcke herunterreißen und ihnen das Geschlecht beschneiden. „Ich wollte das nicht, ich fand das unmenschlich, schlecht“, sagt sie. Ihr Austritt aus Mungiki war gleichzeitig ihr Todesurteil.
Heute ist Anne Nduta 37 Jahre alt. Sie sitzt im Gemeinschaftsraum des Asylbewerberheims am Lerchensteig. Eine schöne Frau mit ebenmäßigem Gesicht. Ihre dunkle Haut schimmert golden, genauso wie die Perücke, die ihr schwarzes gekräuseltes Haar bedeckt. Sie ist eine von 161 Flüchtlingen, die am Lerchensteig wohnen – noch. Im Sommer sollen sie an den Schlaatz ziehen in einen Plattenbaublock. Anne Nduta und ihre Mitbewohner, die neben ihr sitzen, will aber nicht weg. „Ich bleibe hier“, sagt sie und verschränkt die Arme vor ihrer Brust.
Für ihr Leben, für die Sicherheit hat Anne Nduta sechs Kinder zurück gelassen. Ihre Mutter und ihre Heimat. Sechs Jahre ist das her. Sechs Jahre hat sie ihre Heimat nicht mehr gesehen. Sechs Jahre lang hat sie die Geburtstage ihrer Kinder verpasst. „Das ist hart“, sagt Anne Nduta. Aber noch härter ist, dass sie nicht dabei war, als ihr jüngster Sohn gestorben ist. „Fünf Jahre ist er alt geworden, er hatte Leukämie.“ Anne Nduta schluckt, aber ihre Stimme bleibt fest.
Am Schlaatz, glaubt Anne Nduta, ist ihre Sicherheit wieder in Gefahr. „Wegen meiner Farbe“, sagt sie. Sie hat Angst vor dem Ärger mit den Anwohnern. „Die erzählen Lügen, sagen, wir sind dreckig und unsere Kinder laut“, sagt sie. Und sie fürchtet rassistische Übergriffe. Sie kennt viele nette Deutsche, aber sie kennt auch den Busfahrer, der regelmäßig die Bustür schließt, obwohl sie noch samt Kinderwagen dazwischen steckt.
Anne Nduta hat in Deutschland ihr siebtes Kind geboren. Susan ist jetzt zwei Jahre alt. Wenn Anne Nduta von ihr spricht, sagt sie „mein Baby“. Jeden Morgen bringt sie die Kleine in die Kita am Bisamkiez an den Schlaatz, um dann mit der Straßenbahn in die Innenstadt zu fahren. Um 8.30 Uhr beginnt ihr Deutschunterricht in der Dortustraße. Bis um 13 Uhr sitzt sie montags bis freitags in der Volkshochschule, danach holt sie Susan ab und fährt mit dem Bus zurück an den Lerchensteig. Dorthin, wo keine Häuser mehr stehen. Hier gibt es nur eine Kläranlage, das Flüchtlingsheims, das Obdachlosenheim daneben und die Wagenburg dahinter.
Das Flüchtlingsheim besteht aus acht gelbgetünchten Baracken und einem zweigeschossigen Hauptbau. Auf dem Hof hängen Teppiche und Decken an einer Leine. In manchen Fenstern hängen Gardinen, in anderen kleben vergilbte Zeitungsseiten oder Fensterbilder. Vor einigen Türen stehen Dreiräder, Kinderwagen und Sandspielzeug. Zehn Familien haben hier Obdach gefunden, 25 Kinder.
Hinter einer der Türen wohnt die Familie von Rabih Hamada.Seine Frau Hanan öffnet die Tür. Ein weißes Tuch verhüllt ihre Haare, ansonsten trägt sie nur einen türkisblauen Bademantel, an den sich zwei kleine Kinder klammern – Mohammed, vier Jahre und Sali, drei. Auf ihrem Arm trägt sie ihr Baby. Es hat den Kopf gegen die Brust der Mutter gepresst und schnarcht leise vor sich hin.
Die Hamadas sind aus dem Libanon nach Potsdam gekommen. Sie wollten weg aus dem Krisenherd Nahost. Zumal sie als Palästinenser im Libanon ständig diskriminiert wurden. Er hätte nicht einmal arbeiten dürfen, erzählt der 28-Jährige, der eigentlich Gemüsehändler ist. Hier kann er wenigstens für einen Euro die Stunde die Gehwege fegen. Und vielleicht bekommt er irgendwann ja auch eine richtige Arbeitserlaubnis.
Rabih Hamada führt in Jogginghose durch sein neues, deutsches Zuhause: zweieinhalb Zimmer, eine Küchenzeile mit Herd und Ofen, ein Bad und ein Kabuff . „Wir wohnen hier besser als im Libanon“, sagt Rabih Hamada. Er hat ein sanftes, rundes Gesicht. In seinem Wohnzimmer stehen zwei Sofas, ein Tisch und ein Fernseher. Auf dem Boden liegen zwei Matratzen. Die kargen Wände schmückt nichts außer einer Küchenuhr und das gerahmte Porträtfoto seines Vaters.
Im Gemeinschaftsraum sitzt jetzt auch Heimleiter Harald Koch, ein schlaksiger 51-Jähriger mit großer Brille. Er hat für alle Kaffeetassen auf den Tisch gestellt. Die, die drumherum sitzen, wollen das Heim nicht verlassen. „Hier geht es uns gut“, sagt Aznor Woziev aus Russland. „Wir wissen gar nicht, was uns dort erwartet.“ Niemand sei am Lerchensteig vorbei gekommen, um mit ihnen zu reden. Weder die Stadtverwaltung noch das Diakonische Werk, das die Leitung des Potsdamer Asylbewerberheims übernehmen will. Noch wird es von der Arbeiterwohlfahrt geführt.
Rabih Hamada hat Angst, dass seine Kinder am Schlaatz nicht mehr draußen spielen können. Seine Frau fürchtet, dass sie sich dort das Bad und die Küche mit Fremden teilen müssten. „Dann ziehen wir in eine eigene Wohnung“, sagt Rabih Hamada. „Aber das wird schwierig“, fügt er hinzu. Die Hamadas haben nur 760 Euro zum Leben. Am Lerchensteig dagegen kann seine Frau in der eigenen Küche kochen und backen, seine Kinder können draußen Dreirad fahren. Autos gibt es nicht auf dem Heimgelände. Dafür nimmt Rabih Hamada auch die braunen Wasserflecken an der Decke in Kauf. Und dass an den Wänden die Farbe abbröselt. Ja, es gibt hier auch Probleme, sagt Anne Nduta, „viele Probleme“. Im Hauptbau, in dem sie wohnt gebe es Mäuse und Ratten. „Sieben habe ich mit meiner Falle schon gefangen“, erzählt sie.
Sie und ihre Mitbewohner haben den verschiedenen Häusern Spitznamen gegeben. Sie heißen wie die bekanntesten Elendsviertel in Südafrika. Anne Nduta wohnt in Soweto. „In Soweto ist alles alt“, erklärt George, ihr Freund und Nachbar. „Da drüben ist Babylon, da ist alles neuer, da wohnen auch die Neuen“, erklärt er und zeigt auf die Baracke, in der die Hamadas wohnen.
Um die 20 Flüchtlinge erreichen Potsdam jedes Jahr. „Der Lerchensteig ist für viele hier Ersatzheimat geworden“, sagt Heimleiter Harald Koch. Hier sind ihre Freunde. Hier fühlen sie sich sicher – „geborgen“, sagt Harald Koch. „Selbst die Leute, die in eigene Wohnungen gezogen sind, kehrten immer wieder. Die Kenianerin Josephine zum Beispiel. Sie trifft sich hier regelmäßig mit Anne Nduta. Aber ihre Wohnung in Drewitz gefalle ihr auch. Sie lebt dort zwischen lauter Deutschen. Ihre Nachbarn sind alle nett, sagt sie. Juliane Wedemeyer
Juliane Wedemeyer
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