Von Holger Catenhusen: „Eine Krücke für die Seele“
Schritt für Schritt von der Abhängigkeit zur Abstinenz: Ein Besuch bei den Anonymen Alkoholikern
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„Ich heiße Jörg und bin Alkoholiker.“ So beginnt Jörg, wenn er in der Gruppe etwas sagen möchte. Die Gruppe, das sind die Anonymen Alkoholiker. Jörg berichtet, wie es ihm geht. Er hofft, bald einen Aushilfsjob zu finden. Jörg macht viele Pausen, wenn er redet, sammelt seine Gedanken. Er braucht keine Sorge zu haben, dass ihm jemand ins Wort fährt. Erst wenn er „Danke fürs Zuhören“ oder etwas ganz Ähnliches sagt, darf der Versammlungsleiter dem Nächsten das Wort erteilen. Der wird dann seinen Redebeitrag auch wieder mit „Ich heiße...und bin Alkoholiker“ beginnen.
Jeder in der Gruppe ist mit seinem Vornamen bekannt. Anonym, also namenlos, sind die Anonymen Alkoholiker bei ihren Treffen daher eigentlich nicht. Wer möchte, kann jedoch einen fremden Vornamen verwenden. Überprüft wird das nicht. Die wahre Identität ist auch gar nicht wichtig, zumal es keine Mitgliedskartei und keinen Mitgliedsbeitrag gibt. Nach eigenem Bekunden finanzieren sich die Anonymen Alkoholiker ausschließlich durch Spenden der Teilnehmer und sind unabhängig von Religionen und Parteien.
Die Bewegung der Anonymen Alkoholiker versteht sich als Hilfsangebot für alkoholsüchtige Frauen und Männer, die den Wunsch haben, nicht wieder Alkohol zu trinken oder mit dem Trinken aufzuhören. Die regelmäßigen Treffen folgen einem bestimmten Ritual. Zum Beispiel beginnen sie mit dem Verlesen der sogenannten Präambel, in der die Grundsätze der Anonymen Alkoholiker niedergelegt sind.
Aber wie funktioniert nun das Prinzip der 1935 in den USA gegründeten Bewegung, die nach eigenen Angaben mittlerweile in etwa 180 Ländern der Erde aktiv ist?
Am Anfang steht die „Kapitulation“ des Alkoholikers. Darunter versteht man die Einsicht des Alkoholikers, gegenüber dem Alkohol machtlos zu sein und das Leben nicht mehr meistern zu können. Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, muss der Alkoholiker jedoch erst einen gewissen Tiefpunkt erreicht haben.
Rainer, Teilnehmer einer der drei Potsdamer Gruppen, beschreibt das so: „Solange der Alkoholiker seinen Tiefpunkt nicht hat, wird er weiter trinken wollen beziehungsweise weiter trinken müssen.“ Bei ihm selbst war dieser Tiefpunkt vor eineinhalb Jahren erreicht, als ihn ein Arbeitskollege auf seine Trunksucht ansprach. Dann machte er einen Entzug. Seitdem hat er kein Glas Alkohol mehr angerührt, erzählt er. Geholfen hätten ihm dabei die Anonymen Alkoholiker.
Die Gruppe sei für ihn so etwas wie eine „Krücke für die Seele“. Es helfe ihm, dass er sich bei jedem Gruppentreffen bewusst mache, keinen Alkohol trinken zu dürfen. Er habe die Philosophie der Anonymen Alkoholiker verinnerlicht, wonach es zunächst gar nicht darauf ankomme, dem Alkohol für alle Zeiten abzuschwören. Vielmehr gehe es zunächst darum, sich immer wieder vorzunehmen, für die nächsten 24 Stunden keinen Alkohol zu trinken. Er hoffe, so nicht wieder rückfällig zu werden. Dabei wisse er, dass er nie wieder Alkohol trinken dürfe. So geht die Bewegung der Anonymen Alkoholiker denn auch davon aus, dass Menschen, die einmal abhängig vom Alkohol waren, nie wieder Alkohol trinken dürfen, weil sie ansonsten erneut dem maßlosen Trinken verfallen würden.
In den regelmäßig stattfindenden Gruppentreffen, genannt „Meetings“, erzählen sich die Teilnehmer von ihren konkreten Erlebnissen mit dem Alkohol. Sie berichten aber auch, so wie Jörg, von aktuellen Begebenheiten und Problemen aus ihrem persönlichen Leben, die nichts mit Alkohol zu tun haben. Und das ist dann auch schon das Prinzip der Anonymen Alkoholiker: „Jeder hört dem anderen zu. Erfahrung, Kraft und Hoffnung werden geteilt“, so die Aussage der Anonymen Alkoholiker in einer Broschüre.
Rainer zum Beispiel erzählt von seiner „Trinkerkarriere“. Er habe literweise Wein in sich „hineingeschüttet“ und dabei zwar gemerkt, dass mit seinem Trinkverhalten etwas nicht stimmen könne, aber Schuld am Trinken seien natürlich immer die Mitmenschen gewesen. Lange Zeit habe er sich gar nicht für einen Alkoholiker gehalten. Inzwischen ist ihm klar, dass dies ein Irrtum war.
Dass der Alkoholismus für die Betroffenen eine lebenslange Aufgabe bleibt, macht das Beispiel von Wolfgang deutlich. Er ist heute um die 70 und schon sein halbes Leben lang „trocken“, wie er sagt. Dennoch geht er weiterhin zu den Gruppentreffen der Anonymen Alkoholiker. Sie seien inzwischen ein wichtiger Teil seines Lebens. Von früher Jugend an habe er getrunken, bis er sich schließlich „in die extreme Einsamkeit gesoffen“ habe. Auch sein Vater und seine Geschwister hätten dem Alkohol maßlos zugesprochen. Seine Mutter sei eine „Tablettentante“ gewesen. Da habe er eben auch angefangen zu trinken.
Rückfälle sind leider immer wieder möglich. Peter berichtet, wie ihm beim Anblick einer Rumflasche vor wenigen Tagen der Speichel im Mund zusammengelaufen sei. Die Sache ging jedoch gut aus. Er konnte der Versuchung widerstehen.
Meetings in Potsdam: Montags 19 Uhr, Sekiz, Hermann-Elflein-Straße 11, mittwochs 18.30 Uhr, Emmaus-Haus, Neubau Cafeteria, Eisenhartstraße 14-17, samstags 16.30 Uhr, Gemeindezentrum, Anni-von-Gottberg-Straße 14
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