Homepage: „Eine mächtige Verheißung“
Der Historiker Michael Wildt über die Bedeutung der Volksgemeinschaft im Nationalsozialismus
Stand:
Herr Prof. Wildt, welche Rolle hat die Volksgemeinschaft im Nationalsozialismus gespielt?
Der Slogan der Volksgemeinschaft war für die Ideologie und Propaganda des Nationalsozialismus zentral. Sowohl vor 1933 als auch danach. Die Herstellung der Volksgemeinschaft war ein zentrales politisches Projekt der Nationalsozialisten.
Den Begriff hatten die Nazis allerdings nicht allein ersonnen.
Nein, der ist älter, man kann ihn schon im 19. Jahrhundert nachweisen. Aber seine erste große Verbreitung findet er zu Beginn des Ersten Weltkrieges. Hier zeigt sich der Unterschied zum NS-Regime. Der Satz von Kaiser Wilhelm, „Ich kenne keine Parteien, ich kenne nur Deutsche“, schloss auch Sozialdemokraten und Juden mit ein. Der nationalsozialistische Begriff der Volksgemeinschaft zielte weniger auf das Einbeziehen der Menschen – auch wenn das eine große Rolle spielte –, sondern er wurde vor allen Dingen durch seine Grenzen definiert, also diejenigen, die nicht zur Volksgemeinschaft gehören sollten. Das waren natürlich in erster Linie die Juden.
Seinerzeit gab es nicht nur in Deutschland die Vorstellung vom Volkszusammenhang.
Es gibt die Vorstellung von der Gemeinschaft bzw. vom Kollektiv als Kritik an der gesellschaftlichen Moderne in den 30er und 40er Jahren in ganz Europa. Als Beispiel lässt sich etwa das Volksheim-Konzept der Sozialdemokraten in Schweden nennen. All diese verschiedenen Konzepte haben etwas miteinander zu tun, doch die entscheidende Differenz war, dass der NS-Begriff vor allem antisemitisch war.
Die Idee der Volksgemeinschaft referiert auf etwas, das es vorher nicht wirklich gegeben hat.
Eigentlich gab es tatsächlich nie eine Volksgemeinschaft, auch in der NS-Gesellschaft gab es große Disparitäten und Differenzen, Klassen- und Einkommensunterschiede. Tatsächliche Gleichheit hat es im NS-Regime nie gegeben. Aber der Slogan von der Volksgemeinschaft ist eine mächtige Verheißung: dass Jeder und Jede an seinem Platz alles für das Volksganze unternimmt, und dafür auch entsprechend belohnt wird, dass man miteinbezogen ist. Volksgemeinschaft hieß, jeder nach seinen Möglichkeiten und Fähigkeiten, aber nicht individuell, sondern immer bezogen auf das Ganze, auf den sogenannten „Volkskörper“. Alle, die angeblich keinen Nutzen für die Volksgemeinschaft besaßen, wie kranke und behinderte Menschen wurden ausgegrenzt. „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“, lautete ein Wahlspruch des NS-Regimes.
Das Individuum zählte wenig in diesem Zusammenhalt?
Es war in unserem Sinne ein antidemokratischer und antiliberaler Begriff, die Leugnung jeder Individualität, niemand sollte seine eigenen Freiheiten haben, es zielte immer auf den „Volkskörper“, auf dessen buchstäblich biologische Optimierung.
Welche Rolle spielte der Ausgrenzung von „Fremden“?
Ganz kennzeichnend ist der Begriff der Gemeinschaftsfremden, die ausgeschlossen wurden. Allen voran die Juden, Roma und Sinti, sogenannte Asoziale, Kranke und Behinderte. In dieser strikten Ausgrenzung und Ausmerzung zeigt sich der Charakter des nationalsozialistischen Volksgemeinschaftsbegriffs. Und diese Grenzen wurden gewalttätig gezogen, das war nicht nur eine Rechtsfrage. Seit Anbeginn der NSDAP gehört Ausgrenzung durch Gewalt zur Politik dazu.
Die völkische Idee war auch ein letztes Aufbäumen gegen die Moderne.
Mit Sicherheit hatte dies auch einen antimodernen Hintergrund. Kennzeichnend für das NS-Regime ist aber, dass dieser Versuch der Antimoderne nicht durchgesetzt werden konnte. Es gab eben doch weiter die Kleinfamilie, es gab die Individualisierung durch Lohnanreize, es gab sehr wohl Ansätze der individualisierten Massenkonsumgesellschaft, die auf Freizeit zielt und nicht auf eine etwaige Optimierung des „Volkskörpers“. Auch im Nationalsozialismus finden sich diese Tendenzen einer veränderten Arbeitsgesellschaft. Trotz aller völkischen Parolen.
Im Rückblick ist die NS-Ideologie also auch widersprüchlich?
Auf jeden Fall, man darf als Historiker hier nicht dem glatten Schein der Propaganda erliegen. Nicht alles war in sich schlüssig. Volksgemeinschaft hieß Inklusion wie Exklusion, Aufstieg und Wohlstand für die „Volksgenossen“ auf der einen und Verfolgung und Ermordung der „Gemeinschaftsfremden“ auf der anderen Seite. Beides gehört zusammen, und so kann man nicht die angeblich guten Seiten des Nationalsozialismus von den Verbrechen abtrennen.
Was interessiert Sie besonders an dem Thema?
Vor allem die Umwandlung einer Zivilgesellschaft in eine rassistische Volksgemeinschaft. Die Frage, mit welchen Überzeugungen, Wünschen, Hoffnungen und Erwartungen diese Veränderung 1933 verbunden war.
Auch wenn es die Volksgemeinschaft nie wirklich gab, die Verheißung hatte doch auch Erfolg.
Die Aufgabe der demokratischen Freiheiten, der Freiheit der Artikulation oder Arbeitskampf und Interessenvertretung fand ja relativ schnell statt, wurde innerhalb von einem knappen Jahr vollzogen. Das hatte natürlich auch viel mit dem Terror und der gewalttätigen Unterdrückung der Opposition zu tun. Aber allein dadurch lässt sich der Erfolg nicht erklären. Wenn man den Anschluss der Saar 1935 nimmt, die freien Wahlen mit dem überwältigenden Sieg der Nazis, dann ist das schon ein Indikator für den Erfolg des Systems in dieser Zeit. Und dafür war auch das Versprechen der Volksgemeinschaft verantwortlich.
Ihr Fazit
... geht dahin, dass man Politikgeschichte auch als Geschichte von politischen Emotionen ernst nehmen muss. An Begriffen wie der Volksgemeinschaft haben sich Hoffnungen und Erwartungen geknüpft, die auch soziales Handeln mit determinierten. Die Volksgemeinschaft war ein Loyalitätselement, das zahlreiche Deutsche an das Regime gebunden hat. Obwohl die egalitäre Vorstellung der Volksgemeinschaft nicht durchgesetzt wurde, haben die Menschen mit dem Begriff eine Verheißung verbunden, und zwar so stark, dass sie bereit waren, die rechtsstaatliche Zivilgesellschaft der Weimarer Republik aufzugeben.
Auch nach 1945 blieb der Volksbegriff in Deutschland lebendig. Man denke nur an Volkseigentum, Volksarmee oder Volkskammer im Sozialismus der DDR.
Der Volksbegriff ist ein sehr vieldeutiger. Man kann ihn auch im Sinne der Französischen Revolution verstehen oder auch staatsbürgerlich, vom Citizenship her, füllen. Genauso in der amerikanischen Revolution: „We the People“, das ist ein sehr starker Ausdruck, der nichts mit Rassismus oder Ausgrenzung zu tun hat, sondern einen starken demokratischen Gehalt hat. Die Nazis hingegen haben den Begriff durch Blutzugehörigkeit anstelle von Bürgerschaft definiert.
Wie wurde Volk denn in der DDR definiert?
Die SED als opportunistische Machtpartei hat mit beiden Vorstellungen changiert. Sie hat in der Propaganda eher vom Marxismus her an die Französische Revolution angeknüpft, das Volk, das sich gegen seine Unterdrücker erhebt, das seine Geschicke in die Hand nimmt, was Partizipation und Freiheit jenseits von Produktionsverhältnissen, Ausbeutung und Entfremdung bedeutete. Aber der volksgemeinschaftliche Sinn war ja 1945 in der Bevölkerung nicht verschwunden. Die Integrationskampagne, die Aufnahme der kleinen Nazis 1946/47 in die SED hatte viel mit der Aufnahme von volksgemeinschaftlichen Vorstellungen zu tun. Die SED nahm in ihre eigene Propaganda das Bewusstsein darüber auf, dass in der Bevölkerung diese Volksgemeinschaft nach wie vor noch eine große Rolle spielte.
Das Gespräch führte Jan Kixmüller
Prof. Michael Wildt spricht heute (Mittwoch) um 19 Uhr am Potsdamer Einstein Forum, Am Neuen Markt 7, zum Thema „Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung“.
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