Interview mit Erdem Gündüz: „Eine Revolte gegen die Zeit“
Erdem Gündüz war der „Stehende Mann“ auf dem Taksim-Platz in Istanbul. Seine Form des friedlichen Protestes machte ihn weltweit bekannt. Heute erhält der 34-Jährige in Potsdam den M 100 Media Award.
Stand:
Herr Gündüz, wie kamen Sie auf die Idee zu der Aktion „Duran Adam“ – „Stehender Mann“?
Ich hatte gar keine Idee für so einen Protest. Ich war an dem Tag da, auf der Istiklal-Straße (Unabhängigkeitsstraße – die Red.), und es sollten eigentlich zwei große Gewerkschaften demonstrieren. Aber die sind nicht gekommen. Ich wollte nur an den Protesten teilnehmen, ich hatte eine Gasmaske dabei, eine Brille und alles Mögliche, das ganze Zeugs, das man halt als Aktivist gehabt hat. Die Gewerkschaften also kamen nicht und da war so eine Leere und da dachten wir uns, setzen wir uns doch hin, auf den Taksim-Platz. Zum Gezi-Park kamen wir nicht rein, die Polizei hatte alles abgesperrt. Wir wussten, dass es dort viele zivile Polizisten gibt, die Leute hatten Angst und begannen ihren Mut zu verlieren. Ich hab mich dann von der Gruppe getrennt, bin ein bißchen weitergelaufen. Und dann bin ich einfach stehen geblieben. Ich stand.
Woher hatten Sie die Inspiration?
Als ich auf dem Taksim-Platz stand, hatte ich einfach die Idee, stehen zu bleiben. Ich wusste, wenn ich dastehe, wird mich eine Nachrichtenagentur filmen. Es hieß immer, auf dem Taksim-Platz ist alles ruhig. Aber es war deshalb ruhig, weil die Polizei alle Straßen, die zum Taksim-Platz führten, abgesperrt hatte.
Wie lange standen Sie, bis irgendjemand verstand, das ist ja ein Protest?
So genau weiß ich das nicht. Ich denke, so ein bis eineinhalb Stunden später haben es die ersten es gemerkt. Nach fünf Stunden wussten dank der Medien alle in der Türkei, dass ich ein Tänzer bin, dass ich Choreografien mache, dass ich auf der Bühne Performances mache – nach fünf Stunden war ich schon eine Berühmtheit. Ich bin aber als ganz normaler türkischer Bürger dahingegangen und habe nur protestiert. Vielleicht ist es aber auch deshalb so wertvoll geworden, weil ich ein Künstler bin.
Wie ist es jetzt für Sie, ein Held zu sein?
Ich bin noch immer dieselbe Person, für mich hat sich nichts geändert. Was jetzt anders ist: Man fotografiert mich jetzt häufiger
Was hat Sie politisiert? Was brachte Sie dazu, politisch aktiv zu sein?
Ich bin kein Politiker, ich mache auch keine Politik. Das, was ich mache, hat mit politischen Körpern zu tun.
Erklären Sie das bitte.
Das ist wie Tanztheater, wie Pina Bausch. Es nennt sich Tanztheater. Es ist weder Tanz noch Theater. Es ist eben Tanztheater. Wenn ich stehe, gibt es keine Stimme, keine Bewegung, es gibt nur eine Revolte gegen die Zeit. Diese Revolte hat den Grund, gegen die Regierung aufzustehen, die Stimme zu erheben.
Was kritisieren Sie an der Regierung?
Zuerst einmal sind es die Frauenrechte. Das sieht man ganz deutlich, dass die Rechte der Frauen jeden Tag gebrochen werden. Der Ministerpräsident sagt, man soll drei Kinder kriegen, man soll keine Abtreibung machen. Du darfst keine kurzen Hosen tragen als Frau, du sollst ein Kopftuch tragen. Vor allem in den Außenbezirken, in den Slums von den Großstädten, gibt es einen enormen Druck auf die Frauen, dass sie so leben sollen, wie der Ministerpräsident es befiehlt.
Hatten Sie Angst, als Sie da standen?
Vor mir gab es Leute, die 19 Tage hintereinander auf dem Taksim-Platz protestiert haben. Diese Leute haben die Wand der Angst schon durchbrochen. Das Gefühl, Angst haben zu müssen, hatte man überschritten. Es ging um die Freiheit und um die Zukunft der nächsten Generationen; es war nicht mehr so wichtig, ob ich Angst hatte oder mir etwas zustößt. Es gibt einen Satz von Atatürk: „Wenn es um die Nation, das Land geht, ist alles andere zweitrangig.“
Wir sind hier an der Glienicker Brücke: Gibt es zwischen Ihrer Aktion „Stehender Mann“ und der friedlichen Revolution von 1989 Verbindungen?
Ich war damals zehn Jahre alt, als die Bewegung hier in Deutschland losging 1989. Aber ich kann mich erinnern: Ich habe damals, als ich die Bilder sah, geweint. Das ist eine ganz einfache Emphatie und etwas ganz Natürliches.
Ich las, dass Sie mal auf der Bühne eine Performance hatten, bei der Sie gegen eine Wand, eine Mauer antanzten.
2007 habe ich gehört, dass Israel versucht im Gazastreifen eine Mauer hochzuziehen. Aber meine Performance hat nicht mit allem eine direkte Beziehung.
Haben Sie nach „Stehender Mann“ Repressionen erleiden müssen?
Es wurden viele Unwahrheiten verbreitet in den Medien. Man hat mich auf Fotos gezeigt, umkringelt mit einem roten Kreis und noch einen roten Pfeil dran, und drunter geschrieben: „Dieser Mann verunglimpft unsere Religion.“ Man hat mich als Ziel dargestellt. Aber außer ein paar unschönen Ausdrücken habe ich persönlich nichts erlebt.
Es gab viele positive Reaktionen?
Zum größten Teil habe ich positive Reaktionen erlebt. Ein Mann kam zu mir und sagte: ,Ich bin eigentlich vom anderen Lager, aber ich finde es trotzdem toll, was Du dort gemacht hast, das hat uns auch sehr berührt.’
Was dachten Sie, als Sie hörten, sie werden den M 100 Media Award bekommen?
Für mich hat diese Region etwas mit der Berliner Mauer zu tun. Ich wäre auch sehr gern hierher gekommen, ohne einen Preis zu bekommen.
(Der erschienene Potsdamer Oberbürgermeister Jann Jakobs lässt in diesem Moment durch seinen Pressesprecher das Interview unterbrechen. Er werden Fotos gemacht mit Jakobs und Erdem Gündüz an der Glienicker Brücke)
Wie war das gerade für Sie, so eine herzliche Begrüßung durch einen Politiker?
Aus welchem politischen Lager kommt er?
Sozialdemokratie.
Aha, okay (lacht). Daher ist er so warmherzig gewesen. Es gibt etwas Wichtiges und dass ist, das Menschen sich kennenlernen. Es ist wichtig, dass die Grenzen wegkommen und die Menschen sich näherkommen. Die Grenzen bestehen nicht nur physisch; es gibt auch Vorurteile, die überwunden werden sollten.
Das, was in Syrien jetzt wohl passiert, ein Militärschlag, das ist das ganze Gegenteil friedlicher Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele. Wie stehen Sie dazu?
Ich wünsche mir für Syrien Frieden, Frieden und später noch einmal Frieden. Wir haben eine gemeinsame Grenze mit Syrien und können viel besser bewerten, was dort geschieht als die Menschen in Europa. Ich traue den Nachrichten nicht, in denen es heißt, der Assad benutzt Chemiewaffen gegen sein eigenes Volk. Ich glaube das nicht. Und dann: Saddam Hussein hat vielleicht 1000 Menschen getötet, der Krieg, um ihn loszuwerden, hat eine Million Menschenleben gefordert.
Sie sind gegen einen Militärschlag?
Auf jeden Fall. Ich bin dagegen. In der westlichen Welt werden Unwahrheiten verbreitet, um die Menschen gegen Assad zu mobilisieren.
Das Interview führte Guido Berg
Erdem Gündüz, geboren 1979 in Ankara, ist ein türkischer Tänzer und Choreograf. Am 18. Juni 2013 stellte er sich für acht Stunden auf den Istanbuler Taksim-Platz und blickte auf das Denkmal für den Staatsgründer Kemal Atatürk. Die als „Stehender Mann“ (Foto) bekannt gewordene Aktion im Rahmen der Proteste um die Bebauung des Gezi-Parks fand viele Nachahmer. Gündüz studierte Elektrik und Landwirtschaft sowie Kunst, Design, Musik und Tanz. Ein Austauschprogramm brachte ihn an das John F. Kennedy Center for the Performing Arts in den USA. 2008 machte er in Istanbul den Master of Performing Arts.
M100
Am Abend des 5. September 2013 erhält Erdem Gündüz im Orangerieschloss von Sanssouci den M 100 Media Award. Die Hauptrede des M 100-Kolloquiums hochrangiger Medienvertreter hält der Schriftsteller Robert Menasse (Foto). Der M 100 Media Award steht für Verdienste um den Schutz der freien Meinungsäußerung, der Vertiefung der Demokratie sowie der europäischen Verständigung.
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