
© Michael Jungierek
Von Erhart Hohenstein: Eine zwiespältige Truppe
Armee des Volkes? Matthias Rogg vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt Potsdam zu „Militär und Gesellschaft in der DDR“
Stand:
Die so genannte EK-Bewegung war eines der Probleme, die die Führung der DDR-Volksarmee nie in den Griff bekam. Dabei ging es nicht nur um das Bandmaß, von dem die der Entlassung entgegen fiebernden Soldaten Tag für Tag einen Zentimeter abschnitten. Vielmehr entwickelte sich diese Bewegung zu einer Subkultur, die das gesamte Armeeleben mitprägte. Die „Entlassungskandidaten“, also das dritte Diensthalbjahr, zwangen die Jüngeren, Reinigungs- und Aufräumarbeiten zu übernehmen und sie zu bedienen. Wer sich weigerte, wurde schikaniert, verprügelt, auch Fälle von Vergewaltigung hat es gegeben. Die Vorgesetzten sahen meist weg, hing doch ein Funktionieren des Dienstbetriebes wesentlich vom Wohlwollen der erfahrenen „EKs“ ab.
Auch diese Erscheinung leuchtet Matthias Rogg in seinem Buch „Armee des Volkes? Militär und Gesellschaft in der DDR“, das auf seiner Habilitationsschrift beruht, bis in den letzten Winkel aus. Als Bundeswehroffizier, der erst 1999 nach Potsdam ans Militärgeschichtliche Forschungsamt (MGFA) kam, hat der jetzt 45-Jährige nie eine Soldatenstube der Volksarmee von innen gesehen. Umso erstaunlicher ist die Präzision, mit der er den Alltag hinter den Kasernenmauern, ebenso aber die Einwirkung des Militärs auf die Wirtschaft, die Schuljugend, ja alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens in der DDR darstellt.
Dafür ist der Oberstleutnant und Privatdozent in die Tiefen bisher unerschlossener Archivbestände gestiegen und hat hunderte Interviews mit Zeitzeugen geführt. Beraten worden ist er von einigen ehemaligen Angehörigen der NVA, so dem ins MGFA übernommenen Rüdiger Wenzke, und hat sogar die Romane des Potsdamer Schriftstellers Walter Flegel mit der durchaus differenzierten Darstellung des Soldatenalltags genau gelesen. Im Abschnitt über die Nachwuchsgewinnung für die Volksarmee wird sich mancher DDR-Hochschulabsolvent erinnern, wie auch er erst über eine Verpflichtung als „Längerdienender“ (drei Jahre) einen Studienplatz erhielt. Selbst den unter Oberschülern populären Spruch „Abitur mit vier, dann wirste Offizier“ hat Rogg aufgespürt.
Einem so gründlichen Rechercheur kann man das Fazit abnehmen, die Frage „Armee des Volkes?“ sei mit einen „kleinen Ja und einem großen Nein“ zu beantworten. Das Ja sieht er unter anderem darin, dass mindestens jeder fünfte erwachsene DDR-Bürger durch den Wehrdienst oder das Mitwirken in den Kampfgruppen, der Zivilverteidigung, der Gesellschaft für Sport und Technik (GST) und ähnlichem in das Militär eingebunden war. Positiv aufgenommen worden sei von der Bevölkerung der Einsatz der Soldaten in der Ernte und in der Industrieproduktion. Dem stehe aber als großes Nein entgegen, dass die von der SED angestrebte „Interessenidentität zwischen Armee und Volk“ nie hergestellt werden konnte. Für eine große Zahl junger Menschen bedeutete der Wehrdienst die unangenehmste Zeitspanne ihres Lebens.
In der Präsentation des Buches im MGFA durch Joachim Gauck, den ehemaligen Leiter der Stasi-Unterlagenbehörde, kam das „kleine Ja“ nicht vor. Er sieht selbst bei der Jugend eine immer stärker wuchernde DDR-Nostalgie, die die Volksarmee einschließe. Die kritischen Wahrheiten von Matthias Rogg würden deshalb nur schwer den Weg in die breite Öffentlichkeit finden. Der frühere Rostocker Pfarrer malte im Stil einer Lutherschen Strafpredigt NVA-Soldatenstuben an die Wand, in denen das nationalsozialistische Horst-Wessel-Lied eingeübt wurde, und zog einen Vergleich zwischen den Offizierskorps der Bundeswehr und der Volksarmee, der für letzteres alles andere als schmeichelhaft ausfiel. Dessen Pensionäre, die wie stets zu den Veranstaltungen des MGFA eingeladen waren, verließen wortlos den Vortragssaal, nachdem Verleger Christoph Links mit Hinweis auf die fortgeschrittene Zeit die vorgesehene Publikumsdiskussion verhindert hatte.
Matthias Rogg, Armee des Volkes?, herausgegeben vom MGFA Potsdam, Ch. Links Verlag, Berlin 2008, 688 Seiten, rund 60 Abbildungen, 39,90 Euro, ISBN 978-3-86153-478-5.
Erhart Hohenstein
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