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Landeshauptstadt: Ellenbogen, Minirock und Wodka

Wie eine Potsdamerin „total fasziniert“ ist von Sankt Petersburg – einer Stadt voller Stereotype

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Wie eine Potsdamerin „total fasziniert“ ist von Sankt Petersburg – einer Stadt voller Stereotype Von Andrea Röder, St. Petersburg Die Lippen sind noch fester zusammengepresst, der Blick noch kühler, die Ellenbogen noch einsatzfreudiger als sonst, wenn in der Sankt Petersburger Metro die Rush Hour beginnt. Ungeduldig und rücksichtslos schieben sich immer mehr Menschen durch die viel zu engen Türen der U-Bahn-Station. Nicht selten tragen Touristen oder weniger geübte Drängler blaue Flecken oder zumindest ruinierte Schuhe davon. Erst vor der Rolltreppe wird der gewaltige „Humanstau“ dann widerwillig im Reißverschlussverfahren aufgelöst. Andrea Muchow kennt das mittlerweile. Die Jura-Studentin aus Potsdam sitzt in einem Straßencafé gegenüber vom McDonald“s und beobachtet amüsiert die Rempeleien vor der Vasileostrovskaya-Station. Mit einem Stipendium des so genannten Go-East-Programms in der Tasche ist die 28-Jährige vor knapp einem Jahr nach Petersburg gekommen. Hier studiert sie an der Staatlichen Universität für Wirtschaft und Finanzen (FINEC) und arbeitet nebenher als Praktikantin in einer deutschen Kanzlei. Vor zwei Jahren war sie von einem Sommer-Workshop in Piter – wie die Stadt liebevoll von den Einheimischen genannt wird – dermaßen beeindruckt, dass „ich unbedingt noch einmal für länger hierher wollte“, erklärt die gebürtige Perlebergerin, weshalb sie ihre Auslandssemester ausgerechnet hier verbringt. Neben der Auffrischung ihrer Sprachkenntnisse reizte sie vor allem, dass „in Russland alles anders ist“. * * * Wie anders, das durfte sie schon kurz nach ihrer Ankunft im August vergangenen Jahres feststellen. „Die Uni war der absolute Schock“, erinnert sich Andrea Muchow, noch immer kopfschüttelnd, an die ersten Erlebnisse an der Alma Mater. So wird zum Beispiel ihr Wahlfach, internationales Privatrecht, an der Hochschule gar nicht angeboten, „obwohl man mir vorher das Gegenteil gesagt hatte“. Notgedrungen schwenkte sie auf verwandte Fachgebiete um, doch die Vorlesungen fanden, wenn überhaupt, oft anders als angekündigt statt. „Wenn ich dann endlich den Raum gefunden hatte, war niemand da – keine Ahnung, warum“, schildert sie eine häufige Szene zu Beginn ihres Studienjahres. Zwar wurden die Vorlesungspläne im Zwei-Wochen-Rhythmus aktualisiert, doch als weitaus zuverlässiger erwies sich die Methode ihrer russischen Kommilitonen: Jeden Morgen die Büros der Dozenten abzuklappern und zu erfragen, ob sie am jeweiligen Tag ihre Lehrveranstaltungen abhalten. „Die ersten beiden Monate waren furchtbar, und bis heute gefällt es mir an der Uni nicht sonderlich“, bilanziert die Studentin etwas enttäuscht. Doch das Zusammenleben in ihrer „russischen Familie“ wiege den Frust wieder auf. Gemeinsam mit sieben anderen Studenten aus Frankreich, Finnland und China bewohnt sie die fünfte Etage eines internationalen Studentenwohnheims am Kanal Griboedev, mitten im Zentrum. Auch wenn die altbacken und spärlich eingerichteten Zweibettzimmer etwas gewöhnungsbedürftig sind, so zählt jene Unterkunft zweifelsfrei zu den besseren der Stadt. „Wir haben zwar morgens oft kein Warmwasser, was vor allem im Winter unangenehm war, aber wenigstens haben wir keine Kakerlaken“, ist die Potsdamerin mit ihrer Wohnsituation zufrieden. Die meisten Abende verbringen die Studenten auf dem Flur mit Gesellschaftsspielen und Musik oder sie schauen sich Filme auf einem Laptop an. „Natürlich feiern wir auch ab und zu“, gibt Andrea Muchow augenzwinkernd zu, „entweder bei russischen Freunden oder in einem der Clubs.“ Besonders in den ersten Monaten hat sie zahlreiche Bars und Diskotheken ausprobiert – vorzugsweise nahe des Newski Prospekts, dem Hauptboulevard der Stadt, oder auf der vorgelagerten Wassili-Insel, die als Wissenschaftsviertel von vielen Studenten bevölkert wird. „Aber wir müssen uns vorher gut überlegen, ob wir bis 1 oder 6 Uhr ausgehen wollen, weil wir dazwischen nicht zurück ins Wohnheim kommen.“ Denn in dieser Zeit öffnen sich die Brücken, die Insel und Altstadt verbinden, und die Metro fährt nach Mitternacht ohnehin nicht mehr. Ob in der „Fish Fabrique“, im „Moloko-Club“ oder einem der anderen Szeneschuppen Piters, in Sachen Trinkfestigkeit stellt die Potsdamerin nach wie vor einen deutlichen Unterschied zwischen Einheimischen und Ausländern fest: „Russen trinken sehr schnell und viel, so dass sie früh betrunken sind, aber dann feiern sie noch stundenlang weiter, während wir eher gemütlich trinken und irgendwann nicht mehr können.“ So amüsant es anzuschauen ist, wie ein junger Russe binnen 20 Minuten eine Flasche Rotwein leert oder mit gelassener Miene ein Sto-Gramm Wodka hinunterstürzt, so erschrocken war Andrea Muchow doch zu Beginn ihres Aufenthaltes darüber, wie selbstverständlich Alkohol hier zum öffentlichen Erscheinungsbild gehört. Niemand nimmt hier Anstoß daran, wenn nachmittags um Vier Männer und Frauen jeden Alters mit ihrem Feierabendbier in der Hand durch die Straßen schlendern. Gleichfalls verwundert war die junge Brandenburgerin über die unfreundliche Atmosphäre in den Geschäften. Dass die privat sehr gastfreundlichen Russen Fremden gegenüber sehr reserviert auftreten, war ihr bekannt. Doch während sie in der Heimat an einen zumeist freundlichen Kundenumgang gewöhnt ist, begegnen ihr die russischen Verkäuferinnen zum Teil „mit verachtenden Blicken, umso mehr, sobald ich als Ausländerin enttarnt bin“. Selbst im Gostiny Dvor, dem großen Kaufhaus am Newski Prospekt, das stark auf Touristen ausgerichtet ist, „kennen die kein Lächeln“, weiß die junge Frau zu berichten. Dass Andrea Muchow nicht so häufig Einkaufen geht, liegt allerdings nicht an den grimmigen Servicekräften, sondern an der „Ebbe im Geldbeutel“. Zwar reicht das monatliche 400-Euro-Stipendium für ein lockeres Auskommen in Sankt Petersburg, große Sprünge kann die Studentin damit jedoch nicht machen. „Klamotten sind hier oft genauso teuer wie zuhause“, erzählt die junge Frau, „deshalb hab ich mein Geld lieber in CDs angelegt.“ Die silbernen Scheiben sind auf speziellen Märkten für umgerechnet 1,20 Euro zu haben. * * * Dass die hübsche Blondine auch nach fast einem Jahr noch immer schnell als Nichtrussin erkannt wird, liegt im Übrigen weniger an ihrem deutschen Akzent, als vielmehr an ihrem sportlich-legeren Outfit, das gern aus Jeans und Turnschuhen besteht, und ihrem zurückhaltenden Griff in die Schminktöpfchen. Denn in Petersburg legen junge Frauen weit mehr als in der märkischen Heimat Wert auf eine optimale Betonung ihrer Reize. „Schminke ist hier ein Muss“, hat die Potsdamerin festgestellt und fügt mit einem Augenzwinkern hinzu: „Und auch die Mode der Russinnen überrascht mich immer wieder.“ Damit spielt sie auf ein Detail in Piters Erscheinungsbild an, das wohl jedem Tourist, gleich welchen Geschlechts, sofort ins Auge sticht: „Ich habe noch nie so kurze Miniröcke gesehen wie hier.“ Die Mädchen, die keine Röcke tragen, staksen in hautengen Hosen durch die Straßen, Highheels sind quasi Pflicht. Kaum eine hat zuviel auf den Rippen, selbst der pubertäre „Babyspeck“ ist verpönt und Magersucht somit schon bei den Jüngsten keine Seltenheit. * * * Ein anderes, unschönes Thema seien die Langfinger in St. Petersburg, die es auf die Habseligkeiten unbedachter Mitmenschen abgesehen haben. „Obwohl wir wirklich sehr vorsichtig sind, wurde jeder von uns schon einmal beklaut“, berichtet Andrea Muchow von eigenen Erfahrungen und denen ihrer Kommilitonen. Bisher musste die Potsdamerin nur eine Brille einbüßen, die ihr aus dem Rucksack gestohlen wurde. Damit das so bleibt, hat sie ihre Tasche sogar im Café stets fest im Griff. Die „dreisteste Geschichte“ hatte die Studentin jedoch im Wohnheim erlebt, als ein Fremder vorgab, jemanden zu suchen und die Gelegenheit nutzte, um in die Zimmer zu schielen. „Bis dahin hatten wir uns im Haus immer sehr sicher gefühlt und die Türen nicht abgeschlossen.“ Ein großer Fehler, wie sich kurz darauf herausstellte: Plötzlich waren Laptops und andere wertvolle Gegenstände verschwunden. Dem Wachmann, der am Eingang des Wohnheims Dienst schob, wurde daraufhin gekündigt – er war mal wieder auf seinem Posten eingeschlafen. „Dann hat die Verwaltung jenen Wachmann wieder eingestellt, den sie vorher wegen Trunkenheit gefeuert hatte“, erzählt die Studentin weiter und kann sich ein Lachen angesichts dieser Logik nicht verkneifen. „Typisch russisch.“ Doch gerade solche Erlebnisse scheinen für Andrea Muchow den Reiz dieser Metropole auszumachen: „Piter kommt mir vor wie eine völlig andere Welt, und davon bin ich total fasziniert.“ Natürlich tragen nicht nur die mehr oder minder kuriosen Stereotype zu dem guten Gesamturteil bei. „Ich schaue mir oft Theaterstücke an oder besuche Sinfoniekonzerte“, schwärmt sie von dem breiten und für deutsche Verhältnisse sehr günstigen Kulturangebot der Stadt. „Wo kann man bei uns schon für zwei Euro ins Ballett gehen?“ Ebenso beeindruckt zeigt sich die Studentin von der barocken und klassizistischen Architektur in der Altstadt. Pünktlich zum 300-jährigen Stadtjubiläum im vergangenen Jahr waren zahlreiche historische Bauten restauriert worden und erstrahlen nun in neuem Glanz. Die meisten der Sehenswürdigkeiten in und um Petersburg hat die Potsdamerin bereits gesehen: Von der Eremitage, über die Peter-und-Pauls-Festung, die Kunstkammer, die Blutkirche, den ehemaligen Flottenstützpunkt Kronstadt bis hin zum neu errichteten Bernsteinzimmer in Puschkin und den Peterhof etwas außerhalb der Stadt. „Als ich dort war, erinnerte mich der große Park mit dem Springbrunnen sogar ein bisschen an Potsdam und Sanssouci.“ * * * In der letzten Zeit denkt sie immer öfter an ihr Zuhause in der Havelstadt, die WG in der Friedrich-Engels-Straße, wo neben ihrer Mitbewohnerin auch Hund Bjalko auf sie wartet. Wenn sie Ende Juni zurück in Potsdam sein wird, möchte Andrea Muchow als erstes im Babelsberger Park spazieren gehen und die dortige Ruhe genießen. „Ich werde vieles aus Piter vermissen, aber ganz sicher nicht den Lärm, die Uni und die Metro-Drängelei“, sagt sie auf dem Weg zur Vasileostrovskaya-Station. Kaum im Gewühl angekommen, presst sie die Lippen aufeinander, kneift die Augen zusammen und bringt die Ellenbogen in Position. Verdammt russisch. Nur das Lächeln will sie sich nicht abgewöhnen.

Andrea Röder, St. Petersburg

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