Landeshauptstadt: Entstaubte Tasten
Das Accord Orchestra Potsdam ist alles andere als eine altbackene Volksmusik-Combo. Bald gastiert es in Polen
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Guido Roß kennt das schon. Das Wort „Akkordeonorchester“ ruft bei den meisten Menschen Klischees hervor. „Doch dann hören sie uns und sagen: Wow, das hätten wir nicht erwartetet.“ Auf diesen Wow-Effekt ist der Orchesterleiter stolz. Er war es, der 1998 das Ensemble gründete. Heute sind es schon zwei Orchester dieser Art mit je 25 Mitgliedern: eines für die Großen von etwa 14 bis fast 80 Jahre, eines für den kleinen Nachwuchs ab dem Grundschulalter. Zurzeit wird intensiv geprobt, denn am Ostermontag gehen sie allesamt auf eine mehrtägige Konzertreise.
„Ich glaube, wir müssen davor noch ein bisschen zu Hause üben“, sagte Florian Reiche bei der letzten Orchesterprobe am vergangenen Donnerstag. Sein Freund Marco Hanck bestätigt diese Befürchtung. Der 16-jährige Schüler der Potsdamer Lenné-Gesamtschule ist seit etwa acht Jahren im Accord Orchestra dabei. Wie bei fast allen Orchestermitgliedern begann seine musikalische Karriere mit einem Melodika-Kurs in der Grundschule. Die Musikschule Fröhlich brachte den Kindern musikalische Grundbegriffe anhand dieses neuzeitlichen Blasinstruments mit Klaviatur bei. Wer dabei Lust bekam auf weiteres, gemeinsames Musizieren, konnte umsteigen auf Akkordeon und ins Orchester aufrücken. „Man beginnt mit einem kleinen Instrument, und die werden dann mit der Zeit immer größer“, sagt Marco.
Dass die Teenager in einem Alter, wo man meist mehr Zeit für Schule und Freundin braucht, noch mit dabei sind, finden beide ganz normal. „Das ist mal was anderes und ein schöner Ausgleich nach dem Schulstress“, sagt Florian. Selbst unbeteiligte Mitschüler konnten sie schon begeistern, einige kommen jedes Jahr zum Neujahrskonzert der Musikschule in den Nikolaisaal.
Vor allem finden sie das Miteinander gut, die gemeinsamem Fahrten. „Man lernt neue Leute kennen, andere Länder, erlebt Abenteuer“, sagt Marco. In Frankreich, wohin das Orchester im vergangenen Jahr fuhr, waren sie auf eigene Faust in Paris unterwegs – mit einer Fahrkarte hatten sie sich ins Stadtgetümmel gestürzt und bis zum Eiffelturm durchgeschlagen, schwärmen die Jugendlichen. In diesem Jahr geht die Reise Richtung Osten, nach Polen. In Warschau treten sie in der internationalen Willy-Brandt-Schule auf, geben ein Konzert in einem Jugendkulturzentrum in Tychy und gestalten zum Schluss gemeinsam mit Musikschülern aus Opole, der Partnerstadt Potsdams, einen Gala-Konzertabend – unter dem Aspekt von 25 Jahren deutsch-polnischer Nachwende-Beziehungen.
„Wir verstehen uns zwar vornehmlich als Musiker, die ihre Musik hinaustransportieren und vorstellen, aber auch als Botschafter der Stadt Potsdam“, sagt Orchesterleiter Guido Roß. Seit dem Jahr 2000 findet jährlich eine Orchesterreise statt, stets in den Osterferien. Die erste führte sie nach Italien. „Wir haben ganz Europa mit dem Bus durch“, sagt Roß. Der Reisebus ist das Verkehrsmittel ihrer Wahl, Fliegen wäre aufgrund der vielen Instrumente im Gepäck zu teuer. Einmal wollten sie nach Israel, aber die beantragten Fördermittel kamen nicht. „Wir finanzieren diese Reisen ausschließlich alleine, jeder Mitfahrer zahlt einen dreistelligen Betrag in die Reisekasse“, sagt Roß. Auch der Förderverein gibt etwas dazu, Kosten für Noten trägt die Musikschule. Die Mitgliedschaft im Orchester ist allerdings auch nicht umsonst zu haben. Doch allein zu musizieren, sagen viele, mache eben weniger Spaß.
Für Spaß sorgt nicht nur das vielseitige, praktische Instrument, das transportabel und als Ensembleinstrument tauglich ist und bei den Spielern für schnelle Erfolgserlebnisse sorgt, wie Guido Roß erklärt. Um die jungen Leute bei der Stange zu halten, sei vor allem eine gut durchdachte Musikauswahl nötig. „Eben keine typischen Akkordeonstücke – weder Shantys noch bayrische Folklore“, sagt Roß.
Der 45-jährige diplomierte Musikpädagoge leitet seit der Gründung das Orchester. Was gut geht, sind Klassikadaptionen, Filmmusik wie aus Phantom der Oper, Popmusik-Arrangaments wie ein Abba-Medley oder Stücke von Whitney Houston und Tina Turner. Mehrstimmig mit Begleitung eines Bass-Akkordeons, eines elektronischen Schlagzeugs sowie vom Keybord entstehen dann interessante Klangbilder. Er selbst ist ein Multiinstrumentalist, spielt neben Akkordeon Klavier, Gitarre und diverse Flöten. In der Probe in der Aula der Dortu-Schule dirigiert er. Nicht alle Jugendlichen sind da, aber es wird schon klappen in Polen. Und sie haben bereits Publikum: Kristin Hintzsch, 51 Jahre alt, begann vor zwei Jahren autodidaktisch mit dem Akkorderonspiel. Was sie hier hört, gefällt ihr, und sie überlegt, in das Orchester einzusteigen. „Ich würde in die Seniorenecke passen“, sagt sie lachend. Dort sitzen bereits Ursula Herrmann, fast 80 Jahre alt, und Thea Bechert, 72 Jahre. Im vergangenen Jahr bekamen sie Urkunden für ihre zehnjährige Mitgliedschaft. Inmitten der jungen Leute fühlen sie sich sehr wohl und gehen auch mit auf Fahrt. „Das klappt alles problemlos und ist einfach wunderbar“, schwärmt Thea Bechert.
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