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Landeshauptstadt: Erschossen in Moskau

Potsdam zahlte bei stalinistischen Verfolgungen 1950 bis 1953 hohen Blutzoll / Buch nennt Opfernamen

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Am 16. Mai wurde 1951 wurde Haribert Radtke von Stasi-Leuten aus einer Straßenbahn der Linie 2 gezerrt und festgenommen. Der 22-jährige Revisor des FDJ-Landesvorstandes tauchte nie wieder auf. Am 28. Mai 1951 holte die Stasi den im Karl-Marx-Werk als Elektroschweißer arbeitenden Günter Mikat ab. Seine Frau und seine beiden Kinder sahen den 37-Jährigen niemals wieder. Erst nach dem Zusammenbruch des Sowjetsystems erhielten die Nachfahren Gewissheit über das tragische Schicksal der Verschleppten. Sie wurden von der Staatssicherheit an die Besatzer übergeben, vom Potsdamer Militärtribunal wegen angeblicher Spionage zum Tode verurteilt und im Moskauer Butyrka-Gefängnis erschossen. Ihre Asche wurde auf den Donskoj-Friedhof vergraben.

Diese Kenntnisse verdanken die Angehörigen Memorial international Moskau, der bedeutendsten russischen Menschenrechtsorganisation, und dem historischen Forschungsinstitut Facts & Files. Mit Unterstützung der Stiftung Aufarbeitung haben sie in einem Totenbuch „Erschossen in Moskau“ die Schicksale von nicht weniger als 927 Deutschen veröffentlicht, die allein von 1950 bis 1953 aus meist nichtigen Gründen hingerichtet und im Donskoj-Krematorium eingeäschert wurden. Jüngst wurde das Werk in der thüringischen Landesvertretung in Berlin vorgestellt. Deren Leiterin, Staatssekretärin Renate Meier, eröffnete gleichzeitig eine Ausstellung zum Thema. In Abmessung und Form einer der Todeszellen im „Butyrka“ angenähert, berichtet sie in Fotos, Texten und Dokumenten über die fast 1000 Ermordeten.

Auch Potsdam sollte die Wanderausstellung in die Stadt holen. Dafür wäre die begonnene Neugestaltung der Gedenkstätte des ehemaligen KGB/Stasi-Untersuchungsgefängnisses Lindenstraße der richtige Anlass. Vor allem das Totenbuch macht deutlich, dass Potsdam Anfang der 50er Jahre in der Welle stalinistischer Verfolgungen einen besonders hohen Blutzoll entrichtet hat. Bekannt geworden ist bisher – u. a. durch Beiträge in den PNN – der Fall des Bürgermeisterehepaares Erwin und Charlotte Köhler, das seine Opposition gegen die undemokratische Entwicklung in Ostdeutschland mit dem Leben bezahlen musste. Bekannt ist auch die Widerstandsgruppe um den Kriminalbeamten Gerhard Probsthain, die Ermittlungsergebnisse über Straftaten von Besatzungssoldaten in Westberlin öffentlich machte. Die Publizistin Anja Spiegel hat Kampf und Hinrichtung von widerständigen Werderaner Jugendlichen dargestellt. Das Totenbuch nennt jedoch darüber hinaus mehr als 30 Ermordete aus Potsdam und Umgebung, die bisher weithin unbekannt waren – wie Haribert Radtke und Günter Mikat.

Der Memorialvorsitzende Arsenij Roginskij und Jörg Rudolph/Frank Drauschke, Facts & Files, machten als Herausgeber deutlich, dass die Erforschung stalinistischen Terrors längst nicht beendet ist. Jeder Hinweis zur Fortschreibung des Totenbuchs ist ihnen willkommen. Zudem öffnen die 1950 bis 1953 auf dem Donskoj-Friedhof bestatteten deutschen Opfer nur ein kleines Zeitfenster. Schon 1945/46 war mindestens ein Dutzend Potsdamer Gymnasiasten hingerichtet worden, weil sie sich dem Russisch-Unterricht verweigerten oder am 1. Mai als Protest gegen die Zwangsvereinigung von SPD und KPD weiße statt rote Nelken ansteckten.

Aber auch der Kampf gegen den Stalinismus ist noch nicht vorbei, verdeutlichten Roginskij und Gerd Poppe, Stiftung Aufarbeitung. Verfügten in den 90er Jahren russische Militärstaatsanwälte fast ausnahmslos die Rehabilitation der Ermordeten, so auch für das Ehepaar Köhler und die Gruppe um Probsthain, verweigerte sie sie in den letzen Monaten in 71 Fällen. Offensichtlich versucht die Staatsanwaltschaft die Tätigkeit von Memorial zu behindern. Sie erteilte der Menschenrechtsorganisation eine Verwarnung wegen „Unterstützung extremistischer Organisationen“. Erhart Hohenstein

Ausstellung „Erschossen in Moskau“, Thüringische Landesvertretung in Berlin, Mohrenstraße 64.

Totenbuch „Erschossen in Moskau“, Metropol Verlag, Berlin 2005, 400 S., 400 Abbildungen, 22 Euro, ISBN 3-938690-14-3

Vortrag von Jörg Rudolph am Donnerstag, dem 16. März, ab 19 Uhr in der Gedenkstätte „Lindenstraße 54“.

Erhart Hohenstein

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