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Landeshauptstadt: Essen ja – Leben nein

Armutszeugnis: Irene Kirchner und Matthias Stempfle zogen gestern Bilanz über ihren Selbstversuch

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Innenstadt – Das Resümee fällt eindeutig aus: „Das Geld reicht nicht“, sagte Irene Kirchner, Fraktionsvorsitzende von „Die Andere“, gestern zum Abschluss ihres Selbstversuchs. „Es ist möglich, von dem Geld zu essen, aber nicht wirklich, von dem Geld zu leben“, bekräftigte auch Matthias Stempfle, Diakon am Schlaatz. Eine Woche lang haben die beiden von 45 Euro gelebt – dem Geld, das einem Flüchtling zur Verfügung steht. Die Idee für das Experiment kam von der Flüchtlingsberatungsstelle des Diakonischen Werkes und der Ausländerseelsorge des evangelischen Kirchenkreises.

Auch wenn er die Woche mit sechs Euro im Plus abgeschlossen hat, weiß Stempfle, dass das Geld nicht reichen würde: So habe die Geburtstagsfeier seines Sohnes gestern nur mit der finanziellen Hilfe seiner Frau stattfinden können. „Den wirklichen Ernst der Lage habe ich nicht erlebt“, ist sich der 32-Jährige sicher. Seine eindrücklichste Erfahrung aus der Woche: „Geld entscheidet über soziale Teilhabe.“ Auch wenn der Betrag für das Notwendigste gereicht habe: Ein Kino- oder Theaterbesuch wäre nicht denkbar gewesen. Geschenkangebote, etwa von seiner Frau, habe er aber auch nicht annehmen wollen: „Das hätte an meinem Stolz gekratzt“, erklärte Stempfle.

Viele Einladungen habe sie gar nicht bekommen, sagte dagegen Irene Kirchner: „Ich hatte anderes vermutet.“ Kleine Geschenke habe sie dafür umso mehr zu schätzen gelernt: Eine Schachtel Zigaretten zum Beispiel oder ein Stück Kuchen. Außerdem sei sie viel gelaufen, um Fahrkosten zu sparen. Das so gesparte Geld machte sich allerdings im Zeitkontingent bemerkbar: Eine halbe Stunde dauerte allein der Weg in die Innenstadt, erfuhr Kirchner, die als Referentin im Landwirtschaftsministerium arbeitet. „Mit dem Geld kann in Deutschland niemand den Lebensunterhalt bestreiten“, ist sie sich sicher.

Dabei haben Stempfle und Kirchner sogar mit dem „Höchstsatz“ gelebt: Denn die Summe von 224,27 Euro pro Monat, die einem Flüchtling nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zusteht, kann auch gekürzt werden, erklärte Katrin Böhme, die Leiterin der Flüchtlingsberatungsstelle. Allein unter den etwa 190 Bewohnern des „Asylübergangswohnheims“ der AWO am Lerchensteig gebe es 50 derartige Fälle, so Böhme. Insgesamt leben nach Angaben der Stadt momentan 361 Menschen von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz.

Kürzungen gebe es, wenn das Sozialamt der Meinung ist, dass der Flüchtling seinen „Mitwirkungspflichten zur Vorbereitung der Ausreise“ nicht nachkommt, erklärte Böhme: Das könne zum Beispiel der Fall sein, wenn er seinen Ausweis nicht vorweisen kann. Die Verfahrensweise des Sozialamts bei der Bewertung bezeichnete Böhme als „sehr strittig“. Entschieden werde im Einzelfall. Dabei ist die Lage in Potsdam relativ fortschrittlich, so Böhme: Denn anders als „in der Hälfte der Landkreise in Brandenburg“ werden die Leistungen hier bar ausgezahlt – und nicht in Wertgutscheinen.

Für Böhme war der Selbstversuch aber auch aus anderen Gründen „nur exemplarisch“: So wurden zum Beispiel die Anwaltskosten – zwischen 30 und 50 Euro pro Monat – nicht berücksichtigt.

Die Leistungshöhe sei seit 1993 gleich geblieben, so Böhme. Im August 2007 beschloss die Bundesregierung eine Verlängerung der Bezugszeit: Demnach müssen Flüchtlinge jetzt vier statt bisher drei Jahre von den Leistungen leben, ehe sie Anspruch auf den höheren Sozialhilfesatz bekommen. Die Stadt Potsdam traf in der vergangenen Woche eine Übergangsregelung für etwa 80 Betroffene, denen die Mittel deshalb rückwirkend wieder hätten gekürzt werden müssen: Sie erhalten ihr Geld weiterhin. Jana Haase

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