Landeshauptstadt: Federprobe mit Minister
In „Müller’s Tintenfass“ finden Anhänger der herkömmlichen Schreibkultur, was sie dafür brauchen
Stand:
Der Mann hat ein Problem. Er braucht eine neue Mine für seinen Kugelschreiber – und ob der Chef nicht gleich mal schauen würde, woran es liegt, dass diese so schlecht sitzt?
„Das wissen wir gleich, wenn wir eine Originalmine einlegen – ich vermute, wir haben es hier mit einer Fälschung zu tun“, sagt Ingo Müller. In der Papeterie „Müller’s Tintenfass“ wird der vermeintliche Mont-Blanc-Kugelschreiber seziert, dann hat der Kunde Klarheit. Das gute Stück ist ein billiges Plagiat.
Ingo Müller, seit 40 Jahren Inhaber und Mitbegründer der Potsdamer Papeterie-Firma, bleibt dabei stets geduldig und höflich. Für einen echten Mont Blanc müsste man eine vierstellige Summe hinlegen, aber Ingo Müller kümmert sich mit der gleichen Geduld um alle Kunden, ob sie eine Trauerkarte kaufen oder ein Monatsgehalt für ein hochwertiges Schreibgerät ausgeben wollen. „Es ist ein Klischee, dass bei mir alles teuer ist“, sagt der Inhaber. Und verweist darauf, dass die meisten Produkte seines Sortiments aus kleinen Manufakturen stammen oder sogar Unikate sind. Zum Beispiel nummerierte edle Füllhalter einer winzigen Auflage. Zwei Stück hat er davon bestellt. Auf dem lederbezogenen Hocker am Schreibtisch saßen schon mittlere Größen aus Politik und Wirtschaft, auch Minister, und gaben ihre Schreibprobe ab. Müller sieht, welche Sorte Feder, welcher Stift infrage kommt. Womöglich sucht der Kunde nur einen Unterschriftenfüller – ein Anwalt etwa, der seine Schriftsätze damit unterzeichnet.
Die Papeterie in der Wilhelmgalerie ist neben dem Berliner KdW der einzige Laden weit und breit, der die ganze Bandbreite hochwertiger, in Europa typischer Schreibgeräte im Angebot hat, dazu fundiert berät und schnellen Service in Kooperation mit dem Hersteller anbietet. Es gibt selbst im Zeitalter der Digitalität, wenn allerorts nur noch E-Mails verschickt werden, noch genügend Anhänger des bewussten, schönen Schreibens mit der Hand. Auf Papier. Auch davon gibt es bei Ingo Müller reichlich Auswahl, Blöcke, Pakete, Journale, einzelne riesige Bögen oder kleine Kärtchen, bunter Karton, Handgeschöpftes. „Schreiben ist ein Stück Lebensfreude“, sagt Müller. Etwas Handgeschriebenes sei viel persönlicher als eine E-Mail. Er selbst verzichtet im Laden auf einen Internetanschluss, ein Büro in der Friedrich-Ebert-Straße wickelt Bestellungen und den Großhandel ab.
Ingo Müller, heute 64 Jahre alt, und seine Frau Gabriele Müller gründeten ihr Geschäft vor fast 40 Jahren, 1976. In der Geschwister-Scholl-Straße in PotsdamWest durften sie, nach Bewerbung mit Konzept, einen Schreibwarenladen eröffnen. Eine Ausnahme in der DDR, die die Privatwirtschaft fürchtete wie der Teufel das Weihwasser. Die Wendezeit mit all den Umstellungen war schwierig, aber sie blieben dran, eröffneten in Potsdam weitere Läden, für Haushaltswaren und Geschenkartikel. 34 Mitarbeiter waren sie zeitweise.
Geblieben ist jetzt die Filiale am Platz der Einheit. Als damals Mieter für die neu gebaute Wilhelmgalerie gesucht wurden, Anfang der 1990er-Jahre, wurden sie gefragt. Von Anfang an sind sie mit dabei, dreimal sind sie seitdem umgezogen, haben sich vergrößert auf 150 Quadratmeter Verkaufsfläche. Hier findet sich alles, was mit Papier und Schreibgerät zu tun hat. Grußkarten für vielerlei Anlässe, Taschenkalender, Notizbüchlein, Fotoalben, Briefpapier, Bildermappen. Stifte und Füllfederhalter der mittleren bis gehobenen Preisklasse, Zubehör wie edle Ledermäppchen, daneben Geschenkartikel, Kunst und Kerzen, ein wenig was fürs Herz, kleine und große Mitbringsel. „Eine Diddl-Maus finden Sie hier aber nicht“, beschwichtigt Müller. Das unterscheide ihn von Branchenkollegen: Er verzichtet auf bunten Trödel. Er sei auch nicht böse, dass der Laden nur über die Galerie, nicht aber von der Straße aus zu betreten ist. „Ich habe keine Laufkunden, sondern Ziel-Kundschaft“, sagt er. Außerdem sei das gemäßigte Binnenklima gut für seine Produkte. Undenkbar, dass das ausgewählte, hochwertige Papier unter Straßenstaub und Dreck leiden könnte. Undenkbar auch, dass die Kunden keine Ruhe hätten zum Probieren, zum Schauen. Wer bei „Müller’s Tintenfass“ kauft, soll Qualität bekommen – und etwas Individuelles. Dafür bestellt er bei kleinen Manufakturen, zumeist in Brandenburg, die kleine Stückzahlen in Handarbeit fertigen. So ein Stift beispielsweise von Cleo Skribent, einer Firma aus Bad Wilsnack, das sei wie ein Stück Haute Couture. Die kaufe man schließlich nicht von der Stange.
Vor allem Männer, die sich nicht so wie Frauen mit Schmuck behängen, schätzen schönes Schreibgerät, sagt Müller. Jetzt ist die Zeit der Jugendweihen, von Firmung und Konfirmation. Großmütter kaufen dazu gern ein besonderes Geschenk. So einen hochwertigen Füllhalter verliere man gar nicht so schnell, sagt Ingo Müller. „Man gewöhnt sich damit automatisch einen anderen Umgang an.“
Ein junger Mann, der vor Wochen im Laden eine Karte zur Silberhochzeit gekauft hat, steht an diesem Tag wieder vor Ingo Müller. „Sie haben eine schönere Handschrift, können Sie was draufschreiben?“, bittet er, etwas ungelenk. Das passiere nicht jeden Tag, sagt der Schreib-Experte, aber es komme vor.
Wie es mit ihm selbst weitergeht, darüber mache er sich noch keine Gedanken. Die einstigen Azubis sind alle anderswo untergekommen, sagt Müller, doch irgendwann, wenn auch nicht so bald, werden sie ihr Geschäft verlassen oder in andere Hände geben müssen. Das Überleben hänge jedoch letztlich auch von der Gesamtsituation in der Innenstadt ab, sagt er.
„Müller’s Tintenfass“, Wilhelmgalerie, Charlottenstraße 42, Tel. (0331) 2805282
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