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AUS DEM PROGRAMM: Ganz nah dran Höhepunkte

„Sehsüchte“ II: Die osteuropäischen Filme rennen in diesem Jahr den deutschen Beiträgen den Rang ab

Stand:

Was macht eigentlich der deutsche Nachwuchsfilm? Nicht so berauschend war die Antwort der Jury für den Sehsüchte-Spielfilmpreis zur Halbzeit der Sichtung. Man habe verlernt, Geschichten zu erzählen, die Filme würden kalt und gestylt wirken, so die beiden Nachwuchsschauspieler Anna Brüggemann und Sebastian Urzendowsky von der Jury (PNN berichteten).

Nach dem ersten Festivaltag weiß man, was sie meinen. Die deutschen Beiträge sind nicht schlecht. Im Gegenteil, gerade die von der HFF München bestechen Jahr für Jahr durch ihre Professionalität. Doch sie greifen diametral andere Themen auf als beispielsweise die Filme aus Osteuropa. Und Osteuropa ist in diesem Jahr quantitativ wie auch qualitativ so stark wie selten zuvor.

Man nehme beispielsweise den deutschen Beitrag „Lecke Milch“ von Oliver Haffner (HFF München). Beim Mittagessen in der Firmenkantine dreht sich unter den Männern alles um Frauen. Zumindest bei Hans, der ohnehin meint, alle herumzukriegen. Die Kollegin aus der Abteilung ist für ihn nur eine „geile Sau“, die „es braucht“. In erster Linie natürlich von ihm. Sein Kollege Paul erträgt das Geschwätz stoisch, wie er auch den subtilen Druck aus der Chefetage ohne mit der Wimper zu zucken hinnimmt. Im Supermarkt dann aber lässt er Druck ab, mit einer Büroklammer piekt er Löcher in Joghurtbecher, in einer dunklen Ecke schmeißt er Gurkengläser auf den Boden. Die Verkäuferin, die ihn und einen weiteren „stillen Rebellen“ beobachtet, schließt sich den beiden schließlich an.

Hier lehnen sich Menschen gegen ein sinnentleertes Leben in der modernen Industriegesellschaft auf. Das ist recht komisch anzusehen, und irgendwo bekommt man auch einen Spiegel vorgehalten. Aber die Sache endet wie so viele Filme in diesem Jahr ohne ein wirkliches Ende. Man fragt sich, was eigentlich gesagt werden sollte.

Ganz anders dann bei den osteuropäischen Beiträgen. „Wild Duck Season“ von Julia Ruskiewicz etwa greift tief in die Gefühlswelt des Zuschauers ein. Der kleine Tomasz wollte mit seinem großen Bruder Michal Enten schießen. Doch er stolpert, es löst sich ein Schuss und Michal bleibt blutend am Boden liegen. Auch wenn es ein Unfall war, können die Eltern ihrem jüngsten Sohn den Tod des Älteren nicht verzeihen. Anfangs. Doch dann findet die Mutter Tomasz auf dem Acker kniend, wie er das mittlerweile gefrorene Blut seines Bruders aus dem Schnee klaubt. Jetzt begreift sie seine Verzweiflung. Der Film, nach einer literarischen Vorlage, kommt sehr dicht an die Charaktere heran. Die Schauspieler, auch die kleinen, füllen die Figuren gänzlich aus. Wie die Regisseurin nach der Filmvorführung erzählt, keine leichte Aufgabe. Denn, damit die Kinder die schmerzvollen Szenen überzeugend spielen konnten, mussten sie die Geschichte verinnerlicht haben.

Ähnlich weit hinab zu den existenziellen Ebenen des Lebens begibt sich der polnische Film „Razem“ („Zusammen“). In einer Klinik erfährt eine junge Frau, dass ihr nicht mehr viel Zeit bleibt. Auf dem Gang wartet ein Mann, dem es ähnlich geht. Sie greift seine Hand, und die beiden verbringen ihre letzten Wochen in zügelloser Lebensgier miteinander. Bis sie der Sache ein Ende bereiten. Zusammen.

Noch näher kommt der ungarische Film „Vmeste“ (ebenfalls „Zusammen“) an seine Charaktere heran. Wieder zwei Brüder, diesmal Russen, die sich auf ihrem Weg in den Westen treffen. Die Nähe, die in den russischen Familien herrscht, zeichnet der ungarische Regisseur Dennes Nagy in wenigen wortkargen Szenen eindrucksvoll nach. Wie schon im vergangenen Jahr bei den „Sehsüchten“ wird klar, dass im Osten die Familie eine viel größere Bedeutung hat als im Westen.

Ein Kontrast, der dann bei dem deutschen Film „Futschicato“ von Olaf F. Wehling offenkundig wird. Wir blicken in eine WG am Rande einer deutschen Großstadt, die nicht nur örtlich am Rande liegt. Hier wohnen Menschen beieinander, die der Gesellschaft den Rücken gekehrt haben. Familie bedeutet hier gar nichts. Der WG-Wortführer predigt in ausgelutschter Alt-68er-Manier die freie Liebe. Wer zweimal mit der selben pennt Man könnte nun leicht sagen, dass der Film sich wieder einmal um ureigen deutsche Befindlichkeiten dreht. Dass er beim Aufbegehren gegen die NS-Vergangenheit der Väter und Großväter hängen bleibt, die viel zu schnell zur Ausrede für ewigjugendliches Rebellionsgehabe wird. Doch der Film hat auch seine Stärken. Eben wenn er diese ganze Gegenwelt als durch und durch patriarchalisch entlarvt. Nimmt sich doch der WG-Patriarch als einziger heraus, Liebschaften mit nach Hause zu bringen. Was die Mutter des gemeinsamen Kindes keineswegs kalt lässt. Eifersucht ist hier dann doch keine Erfindung des Establishments. Und auch das kleine Töchterchen versteht die Welt nicht mehr. „Futschicato“ vermag keine Geschichte zu erzählen. Aber zumindest ist klar, was gesagt werden sollte.

Fokus Andenländer: Heute Podiumsdiskussion „Vielfalt und Einigkeit im lateinamerikanischen Film“, 18 Uhr, Thalia Kino 3. Filmblock im Anschluss ab 20 Uhr im Thalia 2. Fokus-Party ab 21.30 Uhr in der Schinkelhalle (Kulturgelände Schiffbauergasse). Samstag ab 14 Uhr Screening HFF-Film „Jagdhunde“, 16 Uhr dann Werkstattgespräch im Thalia Kino 3.

Sehsüchte Abschluss-Party morgen ab 22 Uhr im Thalia Foyer. Sonntag, 29. April, 15 Uhr Preisverleihung, ab 17 Uhr Screening der Gewinnerfilme im Thalia Kino 1.

Filme bis morgen ab 15 Uhr im Thalia-Kino, Rudolf-Breitscheid-Straße 50. Weiteres: www.sehsuechte.de. PNN

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