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WEGGEFÄHRTEN: Geist Der des Widerstands

Frantz Fanon ist Arzt, Politiker, Autor, Philosoph. Er stirbt im Dezember 1961 – Tage später erscheint „Die Verdammten dieser Erde“. Das Buch macht ihn zum großen Theoretiker des Kolonialismus

Stand:

Wer sich auf die Suche nach Orten der Erinnerung an Frantz Fanon begibt, müsste eigentlich den gesamten Globus umkreisen. Wo beginnen? Was erst einmal naheliegend scheint: eine Bibliothek und die Regale, auf denen seine Bücher in geordneter Reihe stehen. Aber auch in den Hörsälen von Universitäten, an denen Wissen und wissenschaftliche Wahrheit produziert und weiter gegeben werden, kann man die feinen Spuren von Frantz Fanon finden. Um sie zu begreifen, lohnt es sich, zuerst Professor Antoine Porot zu hören:

„Der muslimische Nordafrikaner ist ein Aufschneider, Lügner, Dieb und faul, er kann als hysterischer Debiler bezeichnet werden, der zudem unvorhersehbaren mörderischen Impulsen folgt.“ Antoine Porot hat im kolonialen Algerien das Krankenhaus aufgebaut, an dem Fanon ab 1953 arbeiten wird. An der medizinischen Fakultät von Algier doziert er: „Man sieht also, dass die Triebhaftigkeit des Algeriers, die Häufigkeit und die Merkmale seiner Morde, seine ständige Neigung zu Straffälligkeit, sein Primitivismus kein Zufall sind... Der Algerier hat keine Hirnrinde oder, um genauer zu sein, das beherrschende Element ist, wie bei den niederen Wirbeltieren, das Zwischenhirn.“

Welchen Effekt hatte diese „wissenschaftliche Wahrheit“ wohl auf die nordafrikanischen Medizinstudenten? Man kann sich leicht vorstellen, wie sie sich trotz „eingeborener Faulheit“ und „intellektueller Infantilität“ durch die gelehrten Vorlesungen des Professors und seiner willigen Assistenten schleppten, diesen ethno-psychiatrischen Stoff paukten, um Prüfungen über die „kriminelle Impulsivität bei den Eingeborenen Algeriens“ zu bestehen und diese Wahrheit dann in der alltäglichen Arbeit in den Krankenhäusern anzuwenden.

Generationen von Kindern, Schülern, Studierenden wurden kulturelle und religiöse Minderwertigkeit eingebläut, koloniale Unterwerfung wurde wissenschaftlich legitimiert und pädagogisch in kräftigen Farben illustriert. Generationen hat man die arabische Schrift, ihre Schrift, mit Abbildungen blonder, europäischer Kinder beigebracht. Sie lernten ihre Kultur, ihr Erbe anhand eines weißen Vorbilds kennen, mit dem sie sich zu identifizieren hatten. Sie sollten sich einer anderen, angeblich überlegenen Welt zugehörig fühlen, ohne je von dieser anerkannt zu werden. Welche verbogenen und sich selbst entfremdeten Persönlichkeiten werden wohl entwickelt, wenn man Kindern beibringt, dass sie im Grunde nichts anderes sind als hassenswerte Mangelwesen?

Frantz Fanon schreibt: „Weil der Kolonialismus eine systematische Negation des anderen ist, eine blindwütige Entschlossenheit, dem anderen jedes menschliche Attribut abzustreiten, treibt er das beherrschte Volk dazu, sich ständig die Frage zu stellen: Wer bin ich eigentlich?“ Damit fragt Fanon auch nach seiner eigenen Identität. Bin ich ein Schwarzer, bin ich das, was die Weißen an mir sehen? Wäre ich nicht gerne ein Weißer, jemand, der fraglos dazugehört und der hat, was ich nicht habe? Schwarze Haut und weiße Maske? Fanon verortet das psychische Trauma der Kolonisierten dort, wo diese erkennen, „niemals das Weiße zu besitzen, das sie begehren, noch das Schwarze verbergen zu können, das zu hassen sie doch gelernt haben.“

Am 20. Juli 1925 in Fort-de-France in der französischen Kolonie Martinique geboren, wächst Frantz Fanon in einer afrokaribisch-weißen Mittelstandsfamilie auf. Sein Vater ist Angestellter, die aus dem Elsass stammende Mutter führt einen Laden. Schon früh wird Frantz Fanon von seinem Lehrer Aimé Césaire gefördert, dem antikolonialen Schriftsteller und politischen Aktivisten. Im Zweiten Weltkrieg kämpft er an der Seite der Franzosen, bis 1951 studiert er Medizin in Lyon, wo er sich mit den zeitgenössischen Philosophen Maurice Merleau-Ponty, Karl Jaspers und Jean-Paul Sartre vertraut macht und nach Studienabschluss eine Stelle am Krankenhaus von Saint-Alban annimmt.

Bereits während der Studienzeit hat Fanon an seinem ersten, bahnbrechenden Buch „Schwarze Haut, weiße Masken“ gearbeitet („Peau noire, masques blancs“, erschienen 1952), in dem er nach der Selbsterfahrung der Schwarzen fragt, diese in die „koloniale Situation“ einträgt, die „rassistischen Strukturen“ kenntlich macht, die alltäglichen Blicke zeigt, durch die ein Schwarzer erst zum Schwarzen und damit zu einem anderen wird.

So hat er schon ein theoretisches Rüstzeug für seine praktische Arbeit als „Chef de service“ in der Anstalt von Blida-Joinville, dem ersten psychiatrischen Krankenhaus in Algerien. Mehr als 100 Jahre zuvor, ab 1830, hat Frankreich mit der Kolonialisierung der Region begonnen, einheimische Landwirte in unfruchtbare Gebiete vertrieben. Das Krankenhaus wurde von dem eingangs zitierten Professor Antoine Porot aufgebaut, in fester Überzeugung europäischer Überlegenheit. Fanon kommt also zu einer Zeit, in der sich kulturelles Stereotyp und Rassismus in den Lehren der „Schule von Algier“ verfestigt und im Unterrichtsstoff etabliert haben. „Das Zögern des Kolonisators, dem Eingeborenen eine Verantwortung zu übertragen, ist kein Rassismus oder Paternalismus“, lehrt Antoine Porot, sondern beruhe „ganz einfach auf wissenschaftlicher Einschätzung der biologisch begrenzten Möglichkeiten des Kolonisierten.“

Dieses Denkmuster ist nicht so vergangen, wie es zunächst scheinen mag, denn auch heutzutage und hierzulande füllen sich die Säle eines interessierten Publikums, diskutiert man mit Herrn Sarrazin die angebliche Inferiorität des Muselmanen, der dem zivilisierten Volkskörper niemals angehören wird und bestenfalls geduldet werden kann, so er sich integrationswillig zeigt.

Was Fanon in Blida-Joinville ab November 1953 hautnah kennenlernt: die Erfahrung von Rassismus und die Spuren, die Unterdrückung, Erniedrigung, Folter an Körper und Seele hinterlassen, die psychischen Beschädigungen von Kolonisierten und Kolonisatoren. Während im kolonialen System der an Ratio überlegene Europäer sich vom Eingeborenen fundamental unterscheiden und daher getrennt behandelt werden sollte, hebt Fanon diese ethnische Segregation auf. Er betreut Gefolterte und Folterer, traumatisierte Opfer und Täter gemeinsam und macht damit auch deutlich, dass sich „die Kolonisation als eine große Lieferantin für psychiatrische Kliniken erwiesen hatte“.

Am 1. November 1954 erklärt die „Front de Liberation Nationale“ (FLN), die algerische Befreiungsfront, offiziell den Beginn ihrer Aktionen. Der französische Innenminister François Mitterrand empfiehlt den Einsatz von Gewalt zur Niederschlagung der Bewegung, im Frühjahr wird der Ausnahmezustand erklärt, tritt Pressezensur in Kraft, im August unterzeichnet der Justizminister ein Dokument, mit dem Einsatzkräften praktisch Straffreiheit zugesichert wird: Es beginnt der algerische Unabhängigkeitskrieg.

In diesem Guerillakrieg wird nicht nur systematisch gefoltert, eine Tatsache, die Frankreich bis in die Gegenwart diskutiert. Ganze Landstriche werden zu „verbotenen Gebieten“ erklärt oder dem Boden gleich gemacht, Zehntausende flüchten nach Marokko und Tunesien. In einigen Teilen des Landes wird die gesamte Bevölkerung zwangsweise umgesiedelt, in Lager verschleppt, um die Kämpfer von der einheimischen Bevölkerung zu isolieren und ihnen so die Unterstützung zu entziehen. Die im Indochinakrieg geschulten Militärs nutzen das Lagerwesen und territoriale Entwurzelung der Bevölkerung als taktisches Einsatzmittel.

Fanon bezieht erneut Stellung und unterstützt die bewaffnete Unabhängigkeitsbewegung, ein Schritt, der ihm später den unter anderem von Hannah Arendt vorgetragenen Vorwurf der Gewaltverherrlichung einbringen wird. Im Sommer 1956 gibt er mit einer öffentlichen Erklärung seine Arbeit in Bila-Joinville auf und schließt sich offiziell der FLN an. Im Januar 1957 flieht er nach Tunis, wo sich das Hauptquartier der FLN und die Exilregierung befinden. In dieser Zeit erscheint sein zweites Buch „Im fünften Jahr der algerischen Revolution“. Bündig stellt er darin fest: „Das alte Algerien ist tot.“ Das Buch wird in Frankreich verboten.

Fanon, der im tunesischen Exil auch in einer psychiatrischen Tageseinrichtung arbeitet, wird nun offizieller Repräsentant der FLN und betritt als Botschafter der „Republik Algerien“ auch die internationale Bühne. Bei einer solchen Mission stellt man im Dezember 1960 Leukämie fest, er wird in Moskau behandelt, kehrt zunächst nach Tunis zurück, die fortschreitende Krankheit treibt ihn jedoch nach Washington zu einer weiteren Behandlung. Der 36-jährige stirbt dort am 6. Dezember 1961, drei Monate vor Unterzeichnung der Verträge von Évian, in denen Frankreich und Vertreter der FLN Waffenstillstand schließen. Vier weitere Monate später erklärt Algerien seine Unabhängigkeit.

Kurz vor seinem Tod konnte Frantz Fanon die Arbeit an einem dritten Buch beenden. Es heißt „Die Verdammten dieser Erde“ („Les damnés de la terre“), das Vorwort hat Jean-Paul Sartre geschrieben. Das Buch macht Frantz Fanon zu einem der abwesend-anwesenden Wortführer des schwarzen Nationalismus in den Städten Nordamerikas und der „Dritte-Welt-Bewegungen“. Denn die Anderen, die Schwarzen, die „Verdammten dieser Erde“ sind nicht nur Algerier oder sonstige Afrikaner, sondern auch die einst versklavten Einwohner der Karibik oder Afrikas, die Schwarzen in Detroit, Chicago oder Harlem.

Auch in den europäischen Metropolen des Studentenprotests, die sich mit den antikolonialen Bewegungen identifizieren, beziehen sich Aktivisten auf Fanon. Zugleich wird er zu einer Referenz der „demokratischen Psychiatrie“, welche die Auflösung der Anstalten für sozial Verrückte vorantreibt und der kapitalistischen Gesellschaft den ihr eigenen Wahn restituiert. Auch kehrt er in die Universitäten zurück. Sein Schreiben wird von den kritischen postkolonialen Studien und ihren Vertretern dort aufgenommen, wo sich die eindeutigen Ordnungen von Schwarz und Weiß, Kolonisator und Kolonisierten verwischen – und wo deutlich wird, dass das koloniale Erbe auch nach der Unabhängigkeit der einstigen Kolonien weiterwirkt und unsere Gegenwart nach wie vor bestimmt.

Also zurück in die Bibliothek und Frantz Fanon in den Büchern anderer Autoren suchen? Es gibt eine weitere Möglichkeit der Spurensuche und des Erinnerns, denn man kann ihn auch in unseren Gemäldegalerien und ihren Darstellungen des Orients finden, in den lasziv-üppigen Gemälden vom Harem, den Szenen vom Sklavenmarkt, die besonders das 19. Jahrhundert und seine Faszination am Exotischen gezeichnet hat. Man steht dann vor Bildern aus 1001 Nacht und den sexualisierten Figuren der europäischen Imagination des anderen: dem Schwarzen, dem Juden, dem Araber, dem Muslim. Die stereotypen Bilder, die sich einer von anderen macht, das zeigte Frantz Fanon, sind niemals unschuldig.

Man kann seine Spuren aber auch im Fernsehen, den Medien finden, die Bilder von den Ereignissen des „Arabischen Frühlings“ in die Wohnzimmer tragen und die doch hartnäckig das verschweigen, was Teil unseres alltäglichen Lebens geworden ist: die koloniale Vergangenheit, die unsere Gegenwart ausmacht. Haben wir nicht alle in mittlerweile üblicher Endlosschleife das blutige Ende von Muammar al Gaddafi gesehen, dem libyschen Diktator, der unter dem Geschrei der wüsten Araber zu Tode gepeinigt wurde, und uns mit zivilisiertem Feingefühl und aufgeklärtem Entsetzen von der ursprünglichen Brutalität der Wilden abgewandt, denen Europa doch Zivilisation und Aufklärung in Körper und Seele gebombt hatte?

Waren wir nicht alle erstaunt, dass die „rückständigen“ und zu Demokratie angeblich unfähigen Araber Würde und Selbstbestimmung fordern? Blicke auf den anderen, das hat Fanon gelehrt, sind psychologische und politische Waffen. Zugleich verdrängen sie immer auch etwas: die Erinnerungen der Kolonisierten an Entwurzelung, Vertreibung, Massenmord, die von Generation zu Generation weiter gegeben werden, sich an Symbole und Orte lehnen und eine weit verzweigte Topographie bilden. In diesen Erinnerungen und ihren Orten zeigt sich Frantz Fanon vielleicht am deutlichsten.

Der antikoloniale

Schriftsteller und

politische Aktivist

Aimé Césaire gilt als Förderer Fanons. Er

schuf den Begriff der

„Négritude“ – einer

eigenständigen schwarzafrikanischen Kultur.

Die Theoretikerin

Hannah Arendt gehörte zu Fanons Kritikern. In ihrem Werk „On Violence“warf sie ihm Gewalt-

verherrlichung vor, weil er die bewaffnete Unabhängigkeitsbewegung

Algeriens unterstützte.

Mit den Schriften von Jean-Paul Sartre kam Fanon während seines Studiums in Kontakt. Der Philosoph schrieb später das Vorwort zu „Die Verdammten

dieser Erde“.

Heidrun Friese

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