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Optimist. Erwin Wagner sagt von sich selbst, dass er ein „Glückskind“ ist. Seine Lebensgeschichte erzählt viel von den Wirren des 20. Jahrhunderts. Am gestrigen Mittwoch konnte er das Glas auf seinen 100. Geburtstag erheben.

©  Andreas Klaer

Landeshauptstadt: Geschichte aus erster Hand

Erwin Wagner hat in 100 Jahren viel erlebt und überlebt. Dazu brauche man Optimismus und Sport, sagt er

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Am Stern - Mehrere Staaten, Sprachen, Währungen und Gesellschaftsordnungen: Wenn Erwin Wagner aus seinem Leben erzählt, dann ist das Geschichtsunterricht aus erster Hand. Am gestrigen Mittwoch feierte der Potsdamer mit Familie und Freunden seinen 100. Geburtstag. Dabei hatte er einiges zu erzählen: Auf die Welt kam er in Lodz, das im Jahr 1912 zum Russischen Zarenreich gehörte. Sein Vater war in der Textilstadt Webmeister. Nach dem Ersten Weltkrieg machte Erwin Wagner im wiedervereinten Polen Abitur und lernte den Beruf des Elektro- und Rundfunktechnikers. Er heiratete und wurde zu ersten Mal Vater.

Sein Leben lief in geregelten Bahnen ab, dann aber kam die Geschichte dazwischen: Als die Wehrmacht Polen 1939 überfiel, kam er als polnischer Offizier verwundet in Kriegsgefangenschaft. Nach seiner Entlassung arbeitete er wieder in seinem Beruf als Elektromechaniker und Vorführer in Kinos. Dann erklärten ihn die deutschen Besatzer zum Deutschen beriefen ihn zur Wehrmacht ein. Aus gesundheitlichen Gründen blieb ihm der Kriegseinsatz erspart. Dafür hielten ihn Polen und Russen nach dem Krieg für einen Verräter. Der sowjetische Militärgeheimdienst verhaftete ihn und brachte ihn zur Zwangsarbeit in eine Steinkohlegrube in der Ukraine. „42 Kilogramm habe ich damals gewogen. Ein volle Schippe Kohle wog zwölf Kilo“, sagt Erwin Wagner. Dort war er bald ein gefragter Mann, weil er elektrische Geräte reparieren konnte und außerdem neben Deutsch und Polnisch,auch Russisch, Bulgarisch, Tschechisch und Ungarisch sprach. Dennoch überlebte er das Lager beinahe nicht, denn bei einem Schachteinsturz wurde er verschüttet. Nach vier Tagen wurden er und andere Zwangsarbeiter gerettet. Wenige Monate später, im Herbst 1947, wurde er nach Deutschland entlassen. Seine Familie lebte mittlerweile in Thüringen. Erwin Wagner fand ausgerechnet bei der sowjetischen Armee Arbeit. Nach der Scheidung von seiner Frau zog er 1954 nach Berlin. Dort heiratete er zum zweiten Mal und bekam seine dritte Tochter. Als Elektriker bediente er die große Leuchtschrift am Bahnhof Friedrichstraße. Später arbeitete er an der Stromversorgung des Staatsratsgebäudes am heutigen Schlossplatz. Kurz vor seiner Rente heiratete er 1977 seine dritte Frau Ruth. Seine zweite Ehefrau war drei Jahre zuvor gestorben.

Gemeinsam mit seiner Frau Ruth zog er im Jahr 1990 nach Potsdam. Sie wollten näher bei den Familien der Kinder wohnen. Seitdem fühlen sie sich sehr wohl im Wohngebiet am Stern: „Wir haben es nicht bereut“, sagt Erwin Wagner.

Neben dem Zweiten Weltkrieg hat Erwin Wagner auch einige schwere Krankheiten wie Typhus überlebt. „Ich bin eben ein Glückskind“, sagte er. Um so alt wie er zu werden, brauche man aber nicht nur Glück, sondern auch Optimismus. Außerdem habe er sein Leben lang viel Sport getrieben. Rennrad ist er leidenschaftlich gern gefahren. Heute setzt er sich noch auf seinen Heimtrainer. Und er gehe viel spazieren. Das sagt auch seine Frau Ruth, die im April ihren 93. Geburtstag hat: „Wenn wir zusammen gehen, teilen wir uns einen Gehstock.“ Marco Zschieck

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