
© Andreas Klaer
Landeshauptstadt: Geschichte statt Disko
Frauen aus der Ukraine sprechen mit Potsdamer Schülerinnen über ihre Kindheit im System von Internierung und Zwangsarbeit
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Die Mädchen könnten mit ihren Outfits eigentlich auch in eine Disko gehen. Oder, an diesem warmen Frühlingstag, irgendwo draußen abhängen. Aber es zieht die fünf Teenager am gestrigen Freitagnachmittag ins Frauenzentrum „Prima Donna“. Zwei von ihnen kommen mit Vera Spatz vom Mädchentreff Zimtzicken, drei sind Schülerinnen der Steuben-Gesamtschule. Ihre Russischlehrerin Anita Fröbe begleitet sie. Zum vierten Mal findet hier ein Treffen von Zeitzeuginnen aus der Ukraine und jungen Potsdamer Mädchen und Frauen statt.
Die Initiative geht von Rita Mildebrath aus. Sie ist Mitglied im Fürstenberger Förderverein Ravensbrück, der enge, teils sehr persönliche Kontakte zum Invalidenverein für ehemalige KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter e.V. in Simferopol pflegt. Auf der Krim zählt dieser etwa 170 Mitglieder, die, meist noch minderjährig, in Deutschland interniert waren und oft Zwangsarbeit leisten mussten. Sie treffen sich regelmäßig, vor allem werden sie im Pflege- oder Krankheitsfall betreut und medizinisch und finanziell unterstützt.
Wichtig sind aber auch die gegenseitigen Besuche. So weilt derzeit eine Gruppe von Frauen in Brandenburg, die hier einige Jahre als Kinder von Zwangsarbeiterinnen verlebten – vielmehr überlebten. Noch können sie reisen und davon berichten. Es genügte gestern eine Frage, um den Redefluss in Gang zu bringen. Eine Dolmetscherin, die die Russischschülerinnen kaum gebraucht hätten, musste des Öfteren um eine Pause zum Übersetzen bitten.
Sie wünsche niemandem solche schrecklichen Erlebnisse, schloss Margarétha Uchaeva, 74, ihren Bericht. Dann kamen doch die Tränen. In Teschendorf sind sie mit Mutter und Geschwistern bei einem Bauern gelandet, sie schuften für einen Hungerlohn, auch nachdem die Mutter gestorben ist. Dann kommen zum Kriegsende die Russen, und die Kinder nehmen all ihren Mut zusammen, klauen im Lebensmittelladen ein Glas Honig. Doch erst nach einem weiteren Jahr beim Bauern kommen die Waisen in ein Sammellager nach Frankfurt (Oder), wo sie dort herumstehende Galgen für Schaukeln halten. Aber immerhin gibt es etwas zu essen. Dann bringt man sie nach Moskau, verteilt sie weiter im Landesinneren. Bei all den Torturen haben die Geschwister Glück, sie überleben, werden gesund.
Alexandra Yastrebova erlebt den Einmarsch der Deutschen auf der Krim, der Vater schließt sich den Partisanen an. „Da gingen die kompletten Familien mit, mein Gott, wir haben in primitiven Verstecken mitten im Wald gelebt, kein Essen, keine Windeln, nur Dreck und weinende Babys“, erinnert sie sich. Im Winter kommen die Tiefflieger, sie ducken sich in den Schnee. Man entdeckt sie, steckt sie in ein Lager, das ist schon schlimm genug. Dann wird die Mutter wegen der Partisanentätigkeit des Mannes verhört und überlebt das nicht. Alexandra ist noch klein, in der Zeit infiziert sie sich mit TBC, sie erlebt, wie Geschwister sterben. Heute ist sie dankbar, dass sie überhaupt überlebt hat. „Ich durfte zehn Jahre zur Schule gehen und bin Elektrikerin geworden, etwas Besonderes für eine Frau“, findet sie.
Die Kaffeemaschine röchelt in die stillen Pausen hinein, der Kuchen duftet. Auf den Tischen Schalen voller Obst. Getränke, Schokolade. Als könne man so wenigstens etwas Wiedergutmachung leisten.
Dabei hängen im Raum noch die Schilderungen der Frauen von immerwährender Kälte, Nächten im Stroh und der steten Angst der Kinder, zu erfrieren. Nach langen Strecken barfuß in Holzpantinen wärmten sie sich gegenseitig die kleinen Füßchen – Kinder, die auf sich allein gestellt zurechtkommen mussten.
Heute sind viele der Frauen gebrechlich oder sogar bettlägerig, manche haben kaum mehr als 50 Euro Rente monatlich zur Verfügung. Aus Deutschland kommen regelmäßig Hilfstransporte mit dem Nötigsten, Pflegebetten, Medikamente, Geld für Operationen. Hoffnungsvoll stimmt auch, dass sich junge Menschen wie die Schülerinnen für die Lebenswege der Frauen interessieren. Steffi Pyanoe
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