
© Manfred Thomas
Von Kay Grimmer: Geschwindigkeitsrausch mit Handicap
Potsdamer Behinderte erlebten rasanten Bootsausflug mit Kapitän Jörg Leonhardt – selbst ein Rolli-Fahrer
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Berliner Vorstadt - Spitze Schreie begleiten Jörg Leonhardts Arbeit. Schuld ist sein Fahrstil. Bei seiner scharf gefahrenen Linkskurve auf dem Tiefen See dröhnt der 25 000 Euro teure Motor seines Rennboots „Hoppetosse“, kreischen die sieben Kinder und Jugendliche, die in dem weißen Flitzer sitzen.
Es ist ein besonderer Bootstrip, der gestern auf dem Tiefen See zu sehen war: Passagiere, aber auch Fahrer Leonhardt selbst sind behindert. Während seine jungen Mitfahrer aus der Oberlinschule taubblind- und hörsehbehindert, zum Teil auch mobilitätseingeschränkt sind, lebt Leonhardt seit 1983, seit seinem 18. Lebensjahr, mit einer Querschnittslähmung und sitzt im Rollstuhl. Inaktiv wollte der agile Leonhardt nicht sein – er suchte sich sportliche Hobbies: Als Rollstuhl-Basketballer reiste er zu den Paralympics nach Sydney. „Als meine Freunde einen Bootsführerschein ablegten, begann auch ich mich für den Wassersport zu interessieren.“ Aus diesem Interesse ist ein ehrenamtliches, gemeinnütziger Verein unter dem Signet „Wings for handicapped“ geworden, das in ganz Deutschland Behinderten, ob Jung oder Alt, zugutekommt: Geschwindigkeitsrausch mit Handicap im Rennboot.
Ehe es mit der „Hoppetosse“ auf eine halbstündige Tempotour über den Tiefen See geht, kurvt Leonhardt ein wenig vor der Hafeneinfahrt von Andrea Burchardis Marina am Tiefen See eindrucksvoll hin und her – damit sich seine Passagiere an das Gefühl in einem Rennboot zu sitzen, gewöhnen können. Anschließend geht es auf ein Wasser- und Geschwindigkeitsspektakel der besonderen Art. „Aber die Höchstgeschwindigkeit des Motors von 90 bis 95 Stundenkilometern werden wir nicht austesten“, verspricht Leonhardt – manch einer der jungen Passagiere zeigt da etwas Erleichterung. Für viele ist es die erste eigene Rennboot-Erfahrung überhaupt. Normalerweise gilt auf den Havelgewässern eine Geschwindigkeitsbegrenzung, laut Leonhardt rund zwölf Kilometer in der Stunde. Um die Schnellfahrgenehmigung auf Teilen des Tiefens Sees kümmerte sich die Betreiberin der Marina am Tiefen See, Andrea Burchardi. Sie hatte auch die Idee, Jörg Leonhardt nach Potsdam zu holen, um das einzigartige Angebot für Behinderte auch in der brandenburgischen Landeshauptstadt zu offerieren.
„Ich lernte Jörg Leonhardt vor einigen Jahren kennen und war von seinem Engagement angetan“, erzählte Burchardi. Anfang dieses Jahres kam die konkrete Anfrage, ob die Betreiberin der Marina am Tiefen See eine Aktion in Potsdam organisieren könne. „Und ich bringe Leute sehr gern auf’s Wasser“, sagte die Organisatorin. Sie begann Mitstreiter, Sponsoren, Lieferanten zu überzeugen, mitzuhelfen. Die Fahrt ist für die Passagiere kostenlos, Betriebskosten für das Boot werden von Leonhardts gemeinnützigen Verein getragen, Burchardi wiederum stellte die gesamte Organisation am Ufer auf die Beine, holte die Potsdamer Wasserwacht als Helfer auf dem Wasser dazu.
Auf dem Boot sind aus den Überraschungsschreien, die übers Wasser schallen, mittlerweile Jubelschreie geworden, als Jörg Leonhardt aufdreht und zur halbstündigen Rundfahrt startet. Die Oberlinschüler sind sichtlich begeistert über das Geschwindigkeitsabenteuer. Nicht nur die Oberlinschule nutzte die Chance auf den außergewöhnlichen Wasser-Ausflug. Auch andere Behinderteneinrichtungen wie die Werkstätten des Deutschen Roten Kreuzes, ja sogar Familien und Privatleute meldeten sich bei Andrea Burchardi, um einen Platz auf dem 2,30 Meter langen Boot zu ergattern.
Auch Leonhardts Engagement, das Potsdams Behindertenbeauftragter Karsten Häschel bei einer Visite gestern Vormittag, lobte, ist ohne eine breite Unterstützung nicht möglich. „Nicht nur der Motor ist teuer, auch das Boot kostet normalerweise gut 38 000 Euro“, erzählt der Käpt’n der „Hoppetosse“. Der Verein habe es zwar für die Hälfte erstehen können, „aber auch das mussten Mitglieder erstmal vorfinanzieren“, so Leonhardt. Jetzt werde über Spenden dieser Kredit abbezahlt.
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