zum Hauptinhalt

Homepage: Historisches Fenster

Diskussion um EU-Beitritt der Türkei in Genshagen

Diskussion um EU-Beitritt der Türkei in Genshagen Eigentlich war nach der ersten Diskussionsrunde alles geklärt. Konsens. Die Europäische Kommission hat die Aufnahme zu Verhandlungen mit der Türkei zur Vollmitgliedschaft in der EU empfohlen, Zeitrahmen 10 bis 15 Jahre, die Reformen der Regierung Erdogan seien dafür ausreichend: die Achtung von Menschen- und Minderheitenrechten, Demokratisierung und ein rechtsstaatliche Reformen. „Die Breite der Reformen spricht für sich“, sagte Michaele Schreyer von der Europäischen Kommission am vergangenen Freitag im Brandenburger Schloss Genshagen. Bedingungen seien die Unumkehrbarkeit des Reformprozesses in der Türkei, Schutzklauseln bei der Freizügigkeit von Arbeitnehmern und ein verstärkter politisch-kultureller Dialog der EU-Länder mit der Türkei. Allein die Verhandlungen seien für die Türkei eine Perspektive, die zum Motor von weiteren Reformen werden dürfte. Das hätte, so Schreyer, der Aufnahmeprozess der neuen EU-Länder erst unlängst gezeigt. Und schließlich sei es im ureigensten Sicherheitsinteresse Europas, wenn es die Türkei schaffe, vom islamisch geprägten Land zu einer modernen offenen Demokratie zu werden. Alles Punkte, die auch Staatssekretär Klaus Scharioth vom Auswärtigen Amt unterstrich. Für die Befürwortung der Verhandlungen durch die Bundesregierung zähle einmal der „eindrucksvolle Reformprozess“ der Türkei andererseits aber auch die einmalige Chance, ein „historisches Fenster“ aufzustoßen: „Um eine Versöhnung der Werte des Islam mit denen der Aufklärung zu finden.“ So weit, so gut. Doch so einfach ist die Angelegenheit dann wohl doch nicht. Geradezu aggressiv attackierte die französische Politikwissenschaftlerin Sylvie Goulard auf dem Podium des Berlin-Brandenburgischen Instituts für Deutsch Französische Zusammenarbeit (BBI) die EU-Kommissarin Schreyer. „Wer soll die Rechnung für den Beitritt der Türkei später zahlen?“, fragte sie. Wobei es ihr weniger um wirtschaftliche Belange ging, sondern etwa um den Fall, dass die Türkei die Gleichberechtigung Homosexueller blockieren könnte oder um die türkischen Gesetze zum Ehebruch. Die Französin schien ein Ventil geöffnet zu haben. In Pausengesprächen der Tagung wurde plötzlich klar, wie stark das Thema emotional aufgeladen ist, durch archaische Ängste vor der Fremdheit des Islam. Denn weniger die wirtschaftliche Rückständigkeit der Türkei scheint Sorgen zu bereiten, als die Angst vor einer „Islamisierung“ Europas. Zumindest warnte ein polnischer Wissenschaftler aus dem Publikum – im Gegensatz zur sehr moderaten Haltung der offiziellen polnischen Gäste – fast schreiend davor. „Die Türken kommen!“ schien aus Urzeiten herauf durch die Hallen des Genshagener Schlosses zu hallen. Auch Historiker Heinrich August Winkler trat vehement gegen Verhandlungen zum Beitritt der Türkei ein, vielmehr favorisierte er die von CDU-Chefin Angela Merkel ins Gespräch gebrachte „privilegierte Partnerschaft“. Die Erweiterung der EU sei der nötigen Vertiefung mit den neuen Mitgliedern vorausgeeilt. Nun sieht Winkler die Union in einer Legitimationskrise. Ohne eine Innehalten des Staatenbundes sieht er die EU sogar zerfallen. Zu diesem Zeitpunkt die Türkei trotz derzeitiger Demokratiedefizite, einem extremen inneren West-Ost-Gefälle und einer nicht wirklich bestehenden Trennung von Staat und Kirche stärker in die EU einzubinden, hält Winkler für riskant. Nachdem der ehemalige französische Justizminister Robert Badinter dann noch davor gewarnt hatte, dass sich die EU mit der Türkei die Konflikte des Nahen Ostens ins Haus hole, war es ausgerechnet die CDU-Politikerin Rita Süssmuth, die auf die Notbremse trat. Sie unterstütze die Empfehlung der Europäischen Kommission, stehe für die Vielfältigkeit der Kulturen in der EU – auch mit einem islamische geprägten Land als Mitglied. Sie wende sich dagegen, dass die Türken mit ihrer Kultur in Europa nicht anerkannt würden. Und überhaupt sei sie erstaunt, dass gerade bei dieser Diskussion weder auf dem Podium noch im Publikum Vertreter der Türkei anwesend waren. Der Abend verlief dann besonnener. Altbundespräsident Richard von Weizsäcker warnte davor, der Türkei die Perspektive für eine Beziehung zur EU zu verweigern. Dies würde den Fundamentalismus und das Militär im Lande stärken, und die Bevölkerung deprimieren. Er sprach sich für Verhandlung mit offenem Ausgang aus. Die Präsidentin der Europa Universität in Frankfurt/Oder, Prof. Gesine Schwan versuchte schließlich eine Linie in die kontroverse Diskussion zu ziehen. Beide Positionen würden erhebliche Risiken und Unsicherheiten in sich bergen. Sie persönlich sei für Verhandlungen über den Beitritt: „Darin liegen mehr Chancen als Risiken, wohingegen bei einer Absage die Risiken überwiegen.“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false