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Landeshauptstadt: Hoffen auf ein Wunder

Hunderte Freiwillige suchten auch am dritten Tag in Folge nach dem spurlos verschwundenen sechsjährigen Elias. Warum sich am Schlaatz so viele Potsdamer bis zur Erschöpfung einsetzen

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Schlaatz - David Krause sitzt konzentriert an einem Klapptisch am Bürgerhaus im Stadtteil Schlaatz, die Anstrengung der vergangenen Tage ist ihm anzusehen. Er beugt sich über einen großen Stadtplan: Mit einem neongrünen Textmarker schraffiert der 34-Jährige die Gebiete, die von den freiwilligen Suchtrupps am Schlaatz und der Umgebung durchkämmt worden sind – nach Elias, dem sechsjährigen Jungen, der seit Mittwochabend spurlos verschwunden ist. „Wir wollen nicht alles doppelt absuchen“, sagt Krause. Es ist Freitagvormittag.

Mittwochabend, gegen 22.30 Uhr, hat sich der derzeit arbeitssuchende Zoopfleger Krause den Hunderten Helfern angeschlossen, die nach dem verschwundenen Sechsjährigen suchen. Sieben, acht Stunden hat er seitdem nur geschlafen. „Mir ist das ein Anliegen, es ist schließlich ein kleiner Junge. Ich wohne selbst am Schlaatz“, sagt der Potsdamer über seine Beweggründe. Dass viele wie er denken, ihre Freizeit opfern, um den Jungen zu suchen, überrascht David Krause nicht. „Das freut mich.“ Denn damit zeige sich auch: „Der Schlaatz ist nicht schlimm.“Ähnlich erzählen es auch andere Helfer vor Ort. In der Facebook-Gruppe „Suche Elias“, in der inzwischen mehr als 12 000 Nutzer vernetzt sind, ist immer wieder lobend von der Selbstlosigkeit vieler Helfer die Rede. Auch Potsdams Sozialdezernentin Elona Müller-Preinesberger (parteilos) bedankt sich bei den Helfern. „Alle zeigen ihre Anteilnahme in einer so schwierigen Situation.“ Das habe sie zutiefst beeindruckt.

Und das im Schlaatz, der als Problemviertel gilt. Nach der Wende zogen viele Bewohner weg aus den tristen Plattenbauten, heute leben dort rund 9000 Menschen. Das Viertel hat mit 14,2 Prozent die höchste Arbeitslosenquote der Stadt, zugleich ging bei den vergangenen Kommunalwahlen nur jeder Vierte an die Urnen. Immer wieder gab es negative Schlagzeilen. Im Februar etwa wurden bei einem von Unbekannten gelegten Wohnhausbrand elf Menschen verletzt. In den vergangenen Jahren brannten in dem Viertel auch Kinderwagen. Statistisch gesehen liegt die Kriminalitätsbelastung laut Polizei rund 25 Prozent über dem Potsdamer Durchschnitt.

Dennoch sagt zum Beispiel Reinhold Ehl aus dem Friedrich-Reinsch-Begegnungshaus, der Schlaatz sei ein wunderbarer Stadtteil, der einzig etwas mehr Leben vertragen könne. „Man lebt etwas anonym.“ Auch Evelyn Blascke sagt, aus ihrer Sicht habe der Schlaatz das Schmuddel-Image vergangener Jahre längst abgelegt: „Es ist alles ganz normal hier.“ Die Frau ist Erzieherin in der Kita „Kinderhafen“ und muss nun mit der Ausnahmesituation umgehen. „Die Kinder sind natürlich aufgeregt.“ Noch einmal habe man Verhaltensmaßnahmen durchgesprochen, etwa nicht zu Fremden in ein Auto zu steigen.

Angesichts des ungeklärten Schicksals von Elias ist das Sicherheitsgefühl im Viertel angeknackst. Ein Beispiel: Die Freie Schule am Bisamkiez, die möglichst selbstbestimmte Kinder will und sonst ihre Tore stets offen hält. Nun ist die Schultür geschlossen – und die Kinder verlassen das Schulgelände während des Unterrichts nur in Gruppen oder in Begleitung eines Lehrers, wie Mitarbeiterin Margret Ruger erzählt: „Wir passen jetzt mehr auf.“

In der Weidenhof-Grundschule am Schilfhof sind am Freitag sogar Polizisten vor Ort, die Lehrer und Schüler nach Hinweisen fragen – und wiederum präventive Tipps geben, wie Kinder Gefahrensituationen vermeiden können. Elias selbst ist in einem anderen Stadtteil zur Schule gegangen – den Namen der Schule wollen Stadtverwaltung und Polizei aber nicht nennen, damit Reporter die Grundschüler nicht belästigen, wie es hinter vorgehaltener Hand heißt.

Kamerateams finden sich am Freitag im Schlaatz viele. Anwohner geben den Journalisten bereitwillig Auskunft – und über das Lebensgefühl in ihrem Stadtteil berichten sie. „Wir Schlaatzer müssen doch zusammenhalten“, heißt es immer wieder. Der Kiez rückt zusammen – es ist die Hilfsbereitschaft in einer Extremsituation.

Vor dem Bürgerhaus am Schlaatz ist der zentrale Treffpunkt. Etliche Bäckereien, Supermärkte und andere Firmen unterstützen die Helfer mit Lebensmitteln und Getränken. Überdurchschnittlich viele Frauen engagieren sich, in den Suchtrupps schieben manche auch Kinderwagen vor sich her. „Ich habe selbst eine Tochter und kann gut nachempfinden, wie die Mutter leiden muss“, sagt eine etwa 40 Jahre alte Frau. Eine andere junge Frau fügt hinzu, dass sie die ganze Nacht auf den Beinen war und mit einer Taschenlampe nach dem Jungen Ausschau hielt. Der Kinderanteil in dem Viertel liegt bei 11,3 Prozent.

David Krause, der Koordinator der Hilfseinsätze, will jedenfalls noch nicht aufgeben. „Wir haben alle die Hoffnung, dass der Junge noch gefunden wird“, sagt er am Abend. Ein großer Teil Potsdams sei durchkämmt worden. Der Schlaatz, der Stern, die Waldstadt I und II. Auch am Brauhausberg wurde gesucht und in Werder und Rehbrücke. „Jetzt ist der Potsdamer Forst dran.“ Da werde jeder Helfer benötigt. „Wir werden weitermachen, bis wir ein Ergebnis haben“, sagt Krause.

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