Landeshauptstadt: „Ich habe keine Kraft mehr“
Potsdams erster Gerichtsprozess wegen einer Zwangsheirat ist am Montag erneut um unbestimmte Zeit verschoben worden
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Der Vorwurf wiegt schwer: Ein türkischer Vater soll seine Tochter gezwungen haben, den Sohn eines Kollegen zu heiraten. Der Vorfall liegt bereits zwei Jahre zurück, bereits im November 2013 hatte es eine ergebnislose Verhandlung am Amtsgericht gegeben. Am gestrigen Montag nun wurde das Verfahren neu aufgerollt – und musste abermals abgebrochen und auf unbestimmte Zeit verschoben werden.
Der Prozesstag begann mit einer Überraschung. Die heute 21 Jahre alte Tülay B., die wegen der Zwangsheirat eine Strafanzeige gegen ihren Vater Nahsan B. gestellt und die Ermittlungen damit erst ins Rollen gebracht hatte, gab unter Tränen eine kurze Erklärung ab, die von einer Dolmetscherin übersetzt wurde. „Ich habe keine Kraft mehr und kann mich an vieles nicht erinnern. Meine Mutter ist wieder schwanger und mir sind die Hände gebunden“, sagte die Hauptbelastungszeugin. Bei dem Verfahren im vergangenen November hatte sie noch ausführlich ausgesagt. Demnach hatte sie 2012 ein Onkel in der Türkei mit dem Tode bedroht. Daher sei sie gemeinsam mit ihrem Bruder Mehmet zu ihren Eltern nach Potsdam geflüchtet und habe einen Asylantrag gestellt. Bald nach ihrer Ankunft habe ihr der Vater eröffnet, sie müsse den heute 27 Jahre alten Yavuz I. heiraten. Das sei mit dessen Familie so abgesprochen. Aus Angst habe sie sich gefügt. So kam es am 23. August 2012 zur Trauung im türkischen Generalkonsulat in Berlin. Im Dezember flüchtete Tülay B. in ein Frauenhaus. Die Ehe ist inzwischen geschieden.
Die Vorwürfe von B. kamen am Montag fast bloß noch in den Fragen von Richter Francois-Atair Eckhardt und dem Vertreter der Staatsanwaltschaft zur Sprache. Die derzeit fehlende Aussagebereitschaft von Tülay B. ist für die Ankläger ein Problem: Aussagen aus abgebrochenen Gerichtsverfahren können in einem neuen Prozess nicht als Beweis für ein Urteil genutzt werden. Im Ungefähren blieb auch ein psychologisches Gutachten zur Glaubwürdigkeit von Tülay B.: Dazu könne kein abschließendes Urteil gefällt werden, hieß es. So sei es auch möglich, dass sie die Heirat eingegangen sei, um einen Aufenthaltstitel in Deutschland zu erlangen, sagte am Montag der vor Gericht anwesende Gutachter.
Zugleich widersprachen andere Zeugen den Aussagen der Frau. Ihr 20 Jahre alter Bruder Mehmet T. sagte, schon für den Asylantrag hätten seine Schwester und er die Todesdrohungen des Onkels erfunden. Noch immer könne er sich nicht erklären, warum seine Schwester die Ehe beendet habe: „Sie war sehr glücklich.“ Seinem Vater bescheinigte er, nie seine Kinder geschlagen zu haben – laut Anklage soll B. seine Tochter geohrfeigt haben, als sie zunächst die Heirat verweigerte. Der 48-jährige Angeklagte verweigerte diesmal die Aussage. Im November hatte Nahsan B. die Vorwürfe bestritten und nur eingeräumt, vor der Ankunft seiner Tochter mit seinem Kollegen über eine Hochzeit gesprochen zu haben.
Gleichwohl verwickelten sich die Entlastungszeugen in Widersprüche. So räumte Tülay B.s Bruder Mehmet ein, die späteren Eheleute hätten sich bei einer von den Familien arrangierten Zusammenkunft erstmals getroffen. Danach seien beide mehrfach zusammen mit ihren Müttern unterwegs gewesen. Daraus habe sich eine Liebesbeziehung entwickelt. Dagegen schilderte der inzwischen verlassene Yavuz I., er habe seine Frau eher zufällig bei einem Grillfest beider Familien kennengelernt, danach habe man sich regelmäßig allein getroffen und nur einige Monate später geheiratet. Den Sinneswandel seiner Frau habe er nicht verstanden, die Strafanzeige gegen ihren Vater habe ihn schockiert. In der Verhandlung sagte Yavuz I aber auch, dass er und seine Frau Streit hatten, weil sie sich im Internet mit anderen Männern schrieb.
Um die komplizierte Gemengelage zu klären, will Richter Eckhardt weitere Unterlagen sichten, etwa zum Asylverfahren der Frau und zur Scheidung. Da dies aber eine gewisse Zeit dauert, muss das Verfahren erneut von vorn beginnen, alle Zeugen werden dann erneut befragt. Laut Gericht ist der Prozess der erste Fall, in dem es um eine Zwangsheirat in Potsdam geht. Henri Kramer
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